Full text: Jahresbericht 1990 (1990)

malte, und steigt mit dem Stadtschreiber und den 
Gesandten von Strassburg und Konstanz, die den Frieden 
zwischen den reformierten und katholischen Eidgenossen 
vermitteln sollen, auf die Gislifluh; man isst und trinkt, 
und Leu zeichnet die Aussicht. Drei Wochen später fällt 
ar im Gefecht am Gubel.7 
Übel also haben die reformatorischen Zeitläufe Hans 
Leu mitgespielt. Wie aber erging es unserer Altartafel in 
jener Woche im Sommer 1524, als unter der Leitung der 
Prediger die Kirchen «gereinigt» wurden ? Vermutlich stand 
sie in einer rechten Seitenkapelle, wie die Lichtführung von 
rechts und die Blickrichtung nach links vermuten lässt; 
vielleicht hatte sie bemalte Flügel, jedenfalls aber stand 
neben der Maria noch eine weitere Figur, von der sich 
gerade noch der Gewandzipfel unten rechts erhalten hat. 
Weshalb entging aber der grössere Teil der Zerstörung? 
Bevor es zu dieser kam, hatte der Rat bereits am 
19. Dezember 1523 und am 8. Juni 1524 gemässigtere 
Beschlüsse zu dieser Frage gefasst, die aber der revolutio- 
nären Stimmung im Volk nicht zu genügen vermochten. 
Im ersten wurde der Einbezug der Bilder in den Kult abge- 
schafft, im zweiten ihre Entfernung, nicht aber die Zerstö- 
rung angeordnet, in beiden aber den privaten Stiftern 
erlaubt, die von ihnen gestifteten Werke nach Hause zu 
nehmen.? Davon profitierte wohl jener unbekannte 
Auftraggeber, der kaum zwei Jahre zuvor die Tafel mit 
Maria und Johannes bei Leu bestellt und teuer bezahlt 
hatte. Entweder hatte er sich mittlerweile selbst der neuen 
Lehre in gemässigter Form zugewandt oder er fügte sich 
den gesellschaftlichen Pressionen: jedenfalls reduzierte er 
die Altartafel auf ein Bild der drei biblischen Personen und 
schnitt die dabei stehende Heilige ab. Und wie um den 
neuen profanen Charakter des Gemäldes als Kunstwerk zu 
unterstreichen, liess er unübersehbar gross Signatur und 
Datum darauf setzen: nicht mehr die Heiligen zur Anbe- 
tung, sondern das Werk des Künstlers Hans Leu wird dem 
Betrachter vor die Augen gestellt. So manifestiert sich in 
dieser Tafel nicht nur die letzte Höhe der altzürcher 
Malerei, sondern auch ihr Untergang, und mit dem Bilder- 
sturm als dem wichtigsten Beitrag Zürichs zur abendländi- 
schen Kunstgeschichte zugleich der Übergang zu einem 
neuen Bildverständnis. 
Christian Klemm 
Anmerkungen 
1 Dazu im Jahresbericht 1986 S. 89-94, neuerdings Christoph und Doro- 
thee Eggenberger: Malerei des Mittelalters (Disentis 1989, = Ars Helve 
tica V) S. 269-271, Abb. 
Die Rekonstruktion des Lebenslaufs und zugleich die Trennung vom 
Vater erarbeitete Paul Ganz anhand der Akten: Paul Ganz: Die Familie 
des Malers Hans Leu von Zürich (Zürcher Taschenbuch, NF XXIV 1901 
5$.154-179, XXV 1902 S. 187-202). Die Rekonstruktion des Werkes ver- 
dankt man: Walter Hugelshofer: Das Werk des Zürcher Malers Hans Leu 
(Anzeiger für schweizerische Altertumskunde, NF XXV 1923 S. 163-179, 
XXVI1924 S. 28-42, 122-150). Seither erweiterte sich das schmale (Euvre 
um ein Gemälde (Gefangennahme Christi, Basel, s. Anm. 20) und mehrere 
Zeichnungen: monogrammiert und datiert Hieronymus (1518, Oxford, 
3. Anm. 23), Pieta (1519, Cambridge/Mass., s. Anm. 23), nur mit Mono- 
gramm Scheibenriss mit Malteser (s. Anm. 21), unbezeichnet Gerhsemane 
(1520, Basel, s. Anm. 23) und Landschaften in Basel, Budapest, Leningrad 
und Nürnberg (s. Anm. 14). Bei dem wenig ausgeprägten Stilprofil von 
Leu fällt die Zuschreibung von Wandgemälden und das Erschliessen von 
Vorlagen aus Glasmalereien und Buchholzschnitten schwer; die Kritik 
scheint in der Regel zu optimistisch. Dazu zuletzt: Lucas Wüthrich: 
Wandgemälde von Müstair bis Hodler. Katalog der Sammlung des 
Schweizerischen Landesmuseums (Zürich 1980) Kat. Nr. 88-116. Am 
nächsten die Räderung des hl. Felix aus der ehem. Stephanskapelle in 
Zürich, stilistisch und qualitativ kaum anzuschliessen die Fresken aus 
dem Klauser-Haus in Luzern (1523). Bernhard Anderes/Peter Hoegger: 
Die Glasgemälde im Kloster Wettingen (Baden 1988). Frank Hierony- 
mus: Oberrheinische Buchillustration 2. Basler Buchillustration 1500- 
1545 (Ausst. Kat. Universitätsbibliothek Basel 1984) s. Register. 
Zu diesen Tafeln anlässlich ihrer Restaurierung Emil D. Bosshard, 
Renate Keller und Lucas Wüthrich in Zeitschrift für schweizerische 
Archäologie und Kunstgeschichte, XXXIX 1982 S. 145-180, ein neuer 
Rekonstruktionsvorschlag bei Daniel Gutscher: Das Grossmünster in 
Zürich (Bern 1983) S. 141 f. 
Zu diesen P. Maurice Moullet: Les maitres A l’ceillet (Basel 1943); Alfred 
Stange: Deutsche Malerei der Gotik (Bd. VII, München 1955) 5.74 
Abb. 156, 161f. - Das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft 
/Christian Marty, Charlotte Gutscher-Schmid, Susan Atherly) führt 
gegenwärtig ein Forschungsprojekt über die Nelkenmeister unter be- 
sonderer Berücksichtigung der Infrarotrectographie durch. 
Renate Keller (wie Anm. 3) S. 171. Wie mir Rolf Keller freundlicherweise 
mitteilt, findet sich derselbe Pressbrokat auf zwei Altarflügeln mit Heili- 
gen, Joachims Opfer und der Begegnung an der Goldenen Pforte, die im 
Museum Zug mit einem nicht zugehörigen Schrein von 1519 verbunden 
sind. Rolf Keller: Der Zuger Flügelaltar von 1519 (Tugium, I 1985 S. 100- 
122, Abb. S. 100). 
Ganz 1901 5.161, ferner 5.167 f. Der 1497 f genannte «Malers Knab» 
kaum identisch mit dem jungen Hans, hingegen der Hans «der Jung» 
von 1504: damals wird er die Lehre begonnen haben, wohl wie üblich mit 
14 Jahren, woraus sich ein Geburtsdatum um 1490 ergibt. Eine sorgfältige 
Zusammenstellung und Interpretation der Quellen bleibt noch zu lei- 
sten. 
Obwohl der Zusammenhang schon Hugelshofer auffiel, wurde die 
naheliegende Kombination anscheinend nie vorgeschlagen. Hingegen 
hält Bernd Konrad Leu für einen Lehrling des Veilchenmeisters und 
wirft sogar die rhetorische Frage auf, ob die beiden nicht identisch seien. 
Interessant ist sein Nachweis der künstlerischen Herkunft des Veilchen- 
meisters aus der Konstanzer Werkstatt des Hohenlandenberger-Altars.
	        
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