Wie bei soviel sinnlich spontaner Oberflächlichkeit
noch jene faszinierende Tiefe oder psychische Dichte
möglich ist, gehört zu den beunruhigenden Rätseln von
Manets Kunst. Die Virtuosität, mit der er etwa das Meer
in der «Flucht Rocheforts» malte, kam für einen Teil seiner
Freunde in fatale Nähe zur atemlosen Pinselfertigkeit
Boldinis und seiner Modebildnisse, brillanteste Aus-
formungen des «chic parisien», der sich gerade in Pastell
bis in die Niederungen der Pflasterkünstler und Jahr-
marktsportraitisten grosser Popularität erfreute. 1878 wurde
de Nittis mit der Ehrenlegion dekoriert; möglicherweise
suchte auch der zu seinem Schmerz noch stets verkannte
Manet mit dem leichten Genre des weiblichen Pastellpor-
traits, bei dem im Gegensatz zur Ölmalerei die offene
Faktur kaum Anstoss erregen konnte, den öffentlichen
Erfolg. Jedenfalls stellte er 1880 in der Galerie der «Vie
moderne» überwiegend solche Arbeiten aus, von denen
freilich nur zwei verkauft wurden. Hingegen erlebte er
[882 noch, dass eines seiner Bilder im Salon auf allgemeine
und begeisterte Zustimmung stiess; Huysmans bemerkte
die Rückwirkung der Pastelltechnik auf das gezeigte Bildnis
der Jeanne de Marsy als «Printemps»: «C’est un portrait
tout charmant, oü l’huile prend des douceurs de pastel, oü
la chair est d’un duvete, d’une fleur de coloris delicieuse.»
Die «Espagnole» weicht in verschiedener Hinsicht von
den anderen Pastellbildnissen Manets ab und entfernt
sıch in ihrer künstlerischen Kühnheit von üblichen Mode-
portraits. Der nachdenkliche, nach innen gerichtete Blick,
dem doch eine gewisse intellektuelle Schärfe eignet, unter-
scheidet sich von den problemlos extrovertiert eleganten
Gesichtern der meisten dieser Damen; das Ungewöhnliche
wird durch die Konzentration auf die Augen betont, neben
denen alles übrige an Formbestimmtheit verliert. Die
Schleier, die am Hütchen befestigt den Kopf wie ein Nebel
umfangen, bilden eine Aura, in der das Gesicht als flüchtige
Vision erscheint. Während Büste und Hintergrund sonst
öfters ähnlich unausgeführt bleiben wie bei den damals
beliebten, sich gegen den Rand ins Weisse verlierenden
Photographien, erhält die Unschärfe und Offenheit hier
zine andere Bedeutung. Die impressionistische Ästhetik
des Augenblicks, des kaum wahrnehmbar Vorübergleitens,
des Verschwindens findet hier eine extreme Form, in der
die Schwere des Gegenstandes ganz in der sinnlichen
Präsenz des hauchzarten Farbstaubes aufgehoben ist. Doch
dies Ätherische hat nichts von der blassen Kraftlosigkeit
Carrieres, sondern entsteht aus den überraschenden, span-
nungsvollen Zufällen einer Phantasie, die künstlerische
Intelligenz und lebendige Spontaneität vereint. Zwischen
den äusseren Bereichen, in denen das Pigment fast formlos
als reine Farbfläche wirkt, und dem kleinen fokussierten
Zentrum um die Augen entfaltet sich in genialer Freiheit
jenes Zwischenreich des Malerischen, in dem jeder Strich
und Wischer seine eigene Energie mit einer inhaltlichen
Andeutung vereint und zugleich ein geheimnisvolles
Drittes ahnen lässt. a
Christian Klemm
Geschichte und Literatur zur «Espagnole» finden sich verzeichnet in Denis
Rouart/Daniel Wildenstein: Edouard Manet (2 Bd., Lausanne 1975) Bd. II
5. 4 Nr. 10. Das französische Zitat über die Cafe-Concert und die Bemer-
ungen über «Chez le Pere Lathuille» —ohne den bisher nicht geäusserten
(dentifikations-Vorschlag zur «Espagnole» — nach A. Tarabant: Manet et
ses ceuvres (Paris *1947) S. 314, 352 £, ebendort die Kritik Huysmans S. 442.
ROBERT RYMAN: «CORRESPONDENT», 1989
Als das Kunsthaus 1985 das erste Bild von Robert Ryman
erwarb, war man sich darüber im klaren, dass eigentlich erst
in der Zusammenschau mehrerer Bilder die Absicht des
Künstlers klar zutage tritt. Man beschloss deshalb bereits
damals, die Neuerwerbung in der Zukunft durch weitere
Werke zu ergänzen.! Da das Bild «Counter» von 1983 in
einem sehr gleichmässigen Duktus gemalt ist und eine nur
wenig strukturierte Oberfläche aufweist, ging das Bestreben
dahin, ihm ein reichhaltiger strukturiertes, malerisches
Werk zur Seite zu stellen. Dies ist nun nach jahrelangen
Bemühungen mit dem Erwerb von «Correspondent» von
1989 in überzeugender Weise gelungen.?
Der 1930 in Nashville/Tennessee geborene Robert
Ryman widmet sich seit Mitte der fünfziger Jahre der Unter-
suchung der grundlegenden Bedingungen von Malerei,
wobei er sich auf das Quadrat und die Farbe Weiss konzen-
triert. Dies ermöglicht ihm eine unbelastete Auseinander-
setzung mit allen Elementen, die Bestandteile eines Bildes
sind. So untersucht er die Wirkungen von unterschiedli-
chen Farbmaterialien, wie Öl, Kasein, Emaillack oder