Full text: Jahresbericht 1990 (1990)

GEORG BASELITZ: «45» 
Das Phänomen des mehrteiligen Bildes lässt sich im 
Schaffen von Georg Baselitz wiederholt beobachten.! Zwei 
Werke überstrahlen in ihrer eindrücklichen Geschlossen- 
heit und Monumentalität allerdings alle andern Polypty- 
chen: das «Strzuenbild» von 1979/80? und das vom Kunst- 
haus erworbene Werk «45» von 1989. Rein äusserliche Merk- 
male verbinden diese beiden Bilderwände: Sie bestehen 
aus 18 beziehungsweise 20 gleich grossen Einzelteilen von 
je 200 cm Höhe und 162 cm Breite, für beide Zyklen hat 
der Künstler als ideale Anordnung eine doppelstöckige 
Hängung vorgeschlagen,? in beiden Werken wird, abge- 
sehen von jeweils zwei Ausnahmen, jedes Bildfeld von der 
Darstellung einer Einzelfigur beherrscht: Im «Srassenbild» in 
aller Regel als Halbfigur, in «45» reduziert auf Kopf oder 
Büste. Und eine weitere merkwürdige Parallele, auf die 
Franz Meyer aufmerksam gemacht hat: beide Male ist die 
als erste entstandene Bildtafel, die die Stilstufe der unmit- 
telbar vorangegangenen Werke vertritt, jeweils in der 
oberen Reihe an zweitäusserster Stelle rechts plaziert.“ 
Damit mag es mit der Aufzählung von äusseren Parallelen 
sein Bewenden haben — denn was die beiden Werke weit 
mehr miteinander verbindet ist wohl ihre hervorragende 
Stellung innerhalb des Gesamtwerkes des Künstlers. Ver- 
gleichsweise einfach ist es, diesen Stellenwert bezüglich des 
Strzwenbilder festzulegen, indem, vielleicht etwas überspitzt 
und vereinfachend formuliert, festgehalten werden kann: 
das «Snzeenbild- überwindet eine 10jährige Experimentier- 
phase, die 1969 mit der Motivumkehr einsetzt, und öffnet 
den Weg zum dreidimensionalen Schaffen. 
Das «Snzeenbild» war ursprünglich zusammen mit drei 
Diptychen, von denen das eine 1989 von der Vereinigung 
Zürcher Kunstfreunde für das Kunsthaus erworben wurde, 
als Baselitz’ Beitrag für den deutschen Pavillon der Bien- 
nale von 1980 vorgesehen — gezeigt wurde schliesslich 
‚Madell für eine Skulptur®. Was anhand dieser mehrteiligen 
Bildanlagen entwickelt wurde, ist in der Baselitz-Literatur 
wiederholt beschrieben worden: Die Aufgabe einer maleri- 
schen, der Abstraktion sich annähernden Durchdringung 
von dargestelltem Gegenstand und umgebenden Bildfeld 
zu Gunsten einer akzentuierten Dualität von Körper und 
Raum, d. h. das Herausarbeiten und Isolieren einer räumli- 
chen Figur, die sich dank der Umkehrung von den tektoni- 
schen Bedingtheiten befreit hat, auf der einen Seite, des 
Bildraumes, der zum Raum des Motivs wird, auf der 
andern Seite.’ 
Mit dem Durchbruch zur Plastik verschwindet in der 
Malerei für mehrere Jahre das mehrteilige Bild, und es 
dominieren zunächst Einfigurenbilder (Orangenesser, Lie- 
gende am Strand oder im Bett, Paraphrasen nach den 
Selbstbildnissen Munchs). 1983 erreicht diese die frühen 
80er Jahre prägende stilistische und thematische 
Recherche — Entwicklung der atektonischen Raumfigur 
und Auseinandersetzung mit Munch und den Brücke- 
Malern — einen unübertrefflichen Höhepunkt in den 
beiden grossformatigen Mehrfigurenkompositionen 
Nachtessen in Dresden» und «Brückechor»®. In der zweiten Hälfte 
des Jahrzehnts hingegen wird mit accelerierender Intensität 
erneut die Tendenz zu zyklischem Schaffen sichtbar. Es 
beginnt mit drei Zyklen von je 12 Kohlezeichnungen im 
Format von 100 x 70 cm zum Thema «Kampfmotive»; eine 
Installationsphotographie von 1986 zeigt die Wandflächen 
füllende Ausbreitung dieser Zeichnungsserien im Atelier 
Derneburg.? 
Das regelmässige parataktische Ausbreiten gleichforma- 
tiger Bildfelder, das in so hohem Masse das Erscheinungs- 
bild des «Strassenbildes» wie von «45» prägt, gliedert auch diese 
Arbeit. Ein Element jedoch, das den beiden Eckpfeilern der 
80er Jahre fremd ist, lässt sich darin erkennen, dass sich bei 
den «Kampfmotiren» einzelne Figurationen über mehrere 
Blätter hinweg erstrecken können; ein anderes Phänomen, 
das in den Bildern um «Brückechor- erstmals auftaucht, ın 
den Kampfmotiven erstmals breiten Raum einnimmt und 
in der Folge zu zentraler Bedeutung kommt,!® ist die dop- 
pelte Motivumkehr, die uns in «45» erneut beschäftigen 
wird. Als Marksteine auf dem Weg zu diesem Werk sind 
zweifellos auch diejenigen Bilder der Jahre 1987/88 anzu- 
sprechen, die eine Vielzahl von weiblichen Köpfen in 
einem einzigen Bildfeld vereinigen wie «Sieben mal Paula“, 
August 1987, (Paula steht für Paula Modersohn-Becker) und 
insbesondere das unmittelbar daran anschliessende Haupt-
	        
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