Full text: Jahresbericht 1990 (1990)

Ritzen und Kerben mit einer Gitterstruktur durchfurcht 
hat. Das Bildmotiv im Zentrum («In jedem Bild befindet 
sich so ziemlich im Bildzentrum etwas ganz Präzises.»!?) 
liegt als reine Malerei über den Kratzspuren, wobei das 
Wechselspiel von Kerben und Malen in einzelnen Tafeln 
mehrmals wiederholt wurde. Natürlich erinnert das 
Arbeiten in die Tiefe der Holztafel an die in der Druckgra- 
phik zur Anwendung gelangenden Prozesse und zwar nicht 
nur, was naheliegt, an den Holzschnitt, sondern ebenso 
sehr an eine Tiefdrucktechnik wie die Kaltnadel, bei der die 
Spuren der mechanischen Einwirkung auf die Platte in 
Form von aufstehenden Gräten das Resultat wesentlich 
mitbestimmen. An den Holztafeln von «45» bewirkt die 
Arbeit in die Tiefe die Zerstörung der Homogenität der 
Bildoberfläche wie auch das fragile Vorstehen von Holz- 
splittern; aber auch das mehrfache Übermalen trägt bei zu 
jener Mehrschichtigkeit, in der sich diese zuvor noch nie in 
vergleichbarer Konsequenz erreichte optische Synthese 
von Druckgraphik, Malerei und Relief manifestiert. Nun ist 
diese Mehrschichtigkeit, das Eindringen in die Tiefe und 
das scheinbare, aber auch materiell erklärbare, schwebende 
Hervortreten des Bildmotivs aus der Bildfläche dem 
Betrachter entgegen nicht artistische Spielerei, sondern 
Teil der Bildaussage. 
Der Titel des Werkes «45», der, wenn er nicht schon von 
Anfang an feststand, spätestens im August, d. h. während 
der Arbeit in Imperia nachweisbar ist,?® bezieht sich auf das 
Jahr 1945, das für die deutsche wie für die gesamteuropäi- 
sche Geschichte wie kein anderes für Zerstörung und Hoff- 
nung, Abschluss und Aufbruch, Untergang und Wiederge- 
burt, steht. Das Jahr bedeutete aber auch im persönlichen 
Erlebnisbereich des Künstlers, der damals sieben Jahre alt 
war, eine der prägenden Kindheitserinnerung: Am 13./14. 
Februar erfolgte die Bombardierung Dresdens (der Ort 
Deutschbaselitz, dessen Namen der Künstler später 
annahm, lag im Bezirk Dresden). Die Evokation der 
«Stunde Null», in der sich Vergangenheit und Zukunft 
treffen, ist bislang in der bildenden Kunst kein Thema 
gewesen — konnte es auch nicht sein, denn «darstellbar» ist 
dieses Thema nicht. Diese überaus anspruchsvolle Motiv- 
wahl entzieht sich der gegenständlichen Annäherung 
ebensosehr wie die bildnerische Darstellung des modernen 
Krieges.2! Nur eine ganzheitliche Auseinandersetzung, in 
der sich alle Elemente, Technik, Motiv, Komposition, 
zusammenfinden, um zu Ausdrucksträgern zu werden, 
nicht um darzustellen, sondern zu sein, vermag dem 
Anspruch einer solchen Aufgabenstellung gerecht zu 
werden. Wie sehr die Erfindung einer völlig neuen Bild- 
“echnik in den Dienst dieses ganzheitlichen Denkens 
gestellt wurde, ist bereits angedeutet worden; um so mehr 
drängt sich die Auseinandersetzung mit den Motiven auf: 
18 Frauenköpfe oder Brustbilder, eine Tafel mit drei Hasen, 
ein Stilleben. Das wiederholte weibliche Kopfmotiv mag 
‚ein äusserlich mit den historischen «Trümmerfrauen»” in 
Verbindung gebracht werden; der thematische Bezug wird 
Jadurch bestätigt, dass Baselitz unmittelbar nach Vollen- 
dung von «45» eine Reihe von monumentalen, durchwegs 
zelb bemalten Holzskulpturen geschaffen hat, die alle 
weibliche Köpfe darstellen und die er «Die Frauen von 
Dresden»?3 genannt hat. Ihren Inhalt indessen bezieht die 
'8malige Wiederholung der Frauenbüsten nicht allein aus 
dieser geschichtlichen Reminiszenz. Die Reduktion des 
Bildes der Frau auf Büste oder Kopf erlaubt den Hinweis 
darauf, dass bereits in der Antike, aber auch in der christli- 
chen Bildtradition das Haupt als Sitz des Lebens zu ver- 
stehen ist.2* Die Wiederholung verleiht dem Bild des 
Lebens, der Existenz schlechthin, die Dimension der 
Beschwörung; das — wie bereits gesagt — sich dem 
Betrachter entgegenwölbende Kopfmotiv löst sich schwe- 
bend, siegreich und schemenhaft zerbrechlich zugleich aus 
den umgebenden Lichtrastern, die zuweilen wie eine Man- 
dorla die Köpfe umgeben; auch die Mandorla?® symboli- 
siert in der christlichen Ikonographie die Wiedergeburt. 
Die Gewissheit der Immanenz des Lebens wird allerdings 
durch die Motivumkehr in Frage gestellt.?® Als Baselitz 
1969 dieses Verfahren entwickelte, stand die inhaltliche 
Xomponente nicht im Zentrum des künstlerischen Inter- 
esses («Der Künstler erreicht damit, dass er den Betrachter 
zwingt, seine Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit 
einem von der Abbildung her leicht identifizierbaren 
Thema nicht allein der inhaltlichen Wiedergabe zuzu- 
wenden, sondern darüber hinaus malerischen Wertigkeiten 
vorrangig Beachtung zu schenken».?) Die Motivumkehr 
hat sich allerdings in den zwanzig Jahren, die «45» vorange- 
gangen sind, als eine Methode erwiesen, aus der immer 
wieder neue Dimensionen von Bildwirklichkeit hervorge-
	        
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