Ritzen und Kerben mit einer Gitterstruktur durchfurcht
hat. Das Bildmotiv im Zentrum («In jedem Bild befindet
sich so ziemlich im Bildzentrum etwas ganz Präzises.»!?)
liegt als reine Malerei über den Kratzspuren, wobei das
Wechselspiel von Kerben und Malen in einzelnen Tafeln
mehrmals wiederholt wurde. Natürlich erinnert das
Arbeiten in die Tiefe der Holztafel an die in der Druckgra-
phik zur Anwendung gelangenden Prozesse und zwar nicht
nur, was naheliegt, an den Holzschnitt, sondern ebenso
sehr an eine Tiefdrucktechnik wie die Kaltnadel, bei der die
Spuren der mechanischen Einwirkung auf die Platte in
Form von aufstehenden Gräten das Resultat wesentlich
mitbestimmen. An den Holztafeln von «45» bewirkt die
Arbeit in die Tiefe die Zerstörung der Homogenität der
Bildoberfläche wie auch das fragile Vorstehen von Holz-
splittern; aber auch das mehrfache Übermalen trägt bei zu
jener Mehrschichtigkeit, in der sich diese zuvor noch nie in
vergleichbarer Konsequenz erreichte optische Synthese
von Druckgraphik, Malerei und Relief manifestiert. Nun ist
diese Mehrschichtigkeit, das Eindringen in die Tiefe und
das scheinbare, aber auch materiell erklärbare, schwebende
Hervortreten des Bildmotivs aus der Bildfläche dem
Betrachter entgegen nicht artistische Spielerei, sondern
Teil der Bildaussage.
Der Titel des Werkes «45», der, wenn er nicht schon von
Anfang an feststand, spätestens im August, d. h. während
der Arbeit in Imperia nachweisbar ist,?® bezieht sich auf das
Jahr 1945, das für die deutsche wie für die gesamteuropäi-
sche Geschichte wie kein anderes für Zerstörung und Hoff-
nung, Abschluss und Aufbruch, Untergang und Wiederge-
burt, steht. Das Jahr bedeutete aber auch im persönlichen
Erlebnisbereich des Künstlers, der damals sieben Jahre alt
war, eine der prägenden Kindheitserinnerung: Am 13./14.
Februar erfolgte die Bombardierung Dresdens (der Ort
Deutschbaselitz, dessen Namen der Künstler später
annahm, lag im Bezirk Dresden). Die Evokation der
«Stunde Null», in der sich Vergangenheit und Zukunft
treffen, ist bislang in der bildenden Kunst kein Thema
gewesen — konnte es auch nicht sein, denn «darstellbar» ist
dieses Thema nicht. Diese überaus anspruchsvolle Motiv-
wahl entzieht sich der gegenständlichen Annäherung
ebensosehr wie die bildnerische Darstellung des modernen
Krieges.2! Nur eine ganzheitliche Auseinandersetzung, in
der sich alle Elemente, Technik, Motiv, Komposition,
zusammenfinden, um zu Ausdrucksträgern zu werden,
nicht um darzustellen, sondern zu sein, vermag dem
Anspruch einer solchen Aufgabenstellung gerecht zu
werden. Wie sehr die Erfindung einer völlig neuen Bild-
“echnik in den Dienst dieses ganzheitlichen Denkens
gestellt wurde, ist bereits angedeutet worden; um so mehr
drängt sich die Auseinandersetzung mit den Motiven auf:
18 Frauenköpfe oder Brustbilder, eine Tafel mit drei Hasen,
ein Stilleben. Das wiederholte weibliche Kopfmotiv mag
‚ein äusserlich mit den historischen «Trümmerfrauen»” in
Verbindung gebracht werden; der thematische Bezug wird
Jadurch bestätigt, dass Baselitz unmittelbar nach Vollen-
dung von «45» eine Reihe von monumentalen, durchwegs
zelb bemalten Holzskulpturen geschaffen hat, die alle
weibliche Köpfe darstellen und die er «Die Frauen von
Dresden»?3 genannt hat. Ihren Inhalt indessen bezieht die
'8malige Wiederholung der Frauenbüsten nicht allein aus
dieser geschichtlichen Reminiszenz. Die Reduktion des
Bildes der Frau auf Büste oder Kopf erlaubt den Hinweis
darauf, dass bereits in der Antike, aber auch in der christli-
chen Bildtradition das Haupt als Sitz des Lebens zu ver-
stehen ist.2* Die Wiederholung verleiht dem Bild des
Lebens, der Existenz schlechthin, die Dimension der
Beschwörung; das — wie bereits gesagt — sich dem
Betrachter entgegenwölbende Kopfmotiv löst sich schwe-
bend, siegreich und schemenhaft zerbrechlich zugleich aus
den umgebenden Lichtrastern, die zuweilen wie eine Man-
dorla die Köpfe umgeben; auch die Mandorla?® symboli-
siert in der christlichen Ikonographie die Wiedergeburt.
Die Gewissheit der Immanenz des Lebens wird allerdings
durch die Motivumkehr in Frage gestellt.?® Als Baselitz
1969 dieses Verfahren entwickelte, stand die inhaltliche
Xomponente nicht im Zentrum des künstlerischen Inter-
esses («Der Künstler erreicht damit, dass er den Betrachter
zwingt, seine Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit
einem von der Abbildung her leicht identifizierbaren
Thema nicht allein der inhaltlichen Wiedergabe zuzu-
wenden, sondern darüber hinaus malerischen Wertigkeiten
vorrangig Beachtung zu schenken».?) Die Motivumkehr
hat sich allerdings in den zwanzig Jahren, die «45» vorange-
gangen sind, als eine Methode erwiesen, aus der immer
wieder neue Dimensionen von Bildwirklichkeit hervorge-