Full text: Jahresbericht 1991 (1991)

HINWEISE AUF 
EINIGE NEUERWERBUNGEN 
AUGUSTO GIACOMETTI 
«PHAETHON IM ZEICHEN DES SKORPIONS» 
Allzu ländlich schlicht, vielleicht auch zu puritanisch 
trocken war die Schweiz, um ein produktives Zentrum des 
Jugendstiles zu werden. Vielleicht verhinderte die föderali- 
stische Aufsplitterung die wünschenswerte Konzentration 
der Kräfte — eben ereilt mich die Nachricht, dass neben 
Aarau, Olten, Solothurn, Grenchen, Biel auch Langenthal 
dringend einer Kunsthalle bedarf —, jedenfalls fehlte es an 
der nötigen Fallhöhe von der Zivilisation zur Natur, um 
deren Vereinigung zum Programm zu machen: die Kultur 
hob sich nicht hinreichend elitär, zu wenig anspruchsvoll 
verfeinert ab, die Natur blieb in der Nahsicht zu zivilisiert 
infiltriert und ohne die ursprünglich unschuldige Kraft 
«jenseits von Gut und Böse». Überdies hatte das Land mit 
seinem Heimatstil bereits den für seine Bedürfnisse ausrei- 
chenden Jugendstil, und wo jener nicht genügte, stülpte 
ihm dieser sein Reformgewand über. Doch was man selbst 
wenig ausprägte, zog der magische Raum des über Europas 
Niederungen schwebenden Hochgebirges an sich: Tuber- 
kulose und Lebensreform, Zauberberg und Monte Veritä 
lauten die hier kulminierenden Pole, um die Weltschmerz 
und Lebenslust kreisten. 
So dürfte es doch mehr als Zufall gewesen sein, dass zu 
keinem europäischen Stil schweizerische Künstler so viel 
beigetragen haben wie zum Jugendstil. Noch mehr als an 
Eugene Grasset und Hermann Obrist, die in Paris und 
München massgeblich an der Ausbildung der Ornamentik 
mitwirkten, denken wir dabei an die Maler, die im deka- 
denten Symbolismus des Fin de si&cle mit alpenländisch 
unverfeinerter Lebenskraft an der Wiege der Art Nouveau 
standen: Böcklin zunächst, der Ahnherr der naturburschi- 
kosen Faune und Kentauren, die sich in «Pan» und «Jugend» 
massenweise tummeln sollten; Segantini sodann und vor 
allem Hodler, die nicht nur das Bild des alpinen Sehn- 
suchtsraum bestimmten, sondern die Malerei der Zeit über- 
haupt zentral prägten; schliesslich Vallotton, der in seinen 
Holzschnitten eine unterschwellig ätzende Kritik an der 
philiströsen Bourgeoisie mit äusserster stilistischer Perfek- 
tion und Ökonomie vortrug und damit einen wesentlichen 
Aspekt der Bewegung ausformulierte. 
Die schöpferischen Impulse der Art Nouveau aber 
formte in besonders eigener und fruchtbarer Weise der eine 
Generation Jüngere Augusto Giacometti um!. Wie sein 
entfernter Vetter Giovanni aus Stampa stammend, fand er 
im Gegenzug zu dem liniensüchtigen florealen Jugendstil 
in der Farbe sein eigentliches Mittel zur sinnenhaften 
Verzauberung der Welt. Schon während seiner Ausbildung 
an der Kunstgewerbeschule in Zürich entdeckte er die 
Ornamentvorlagen Eugene Grassets, der — 1841 in 
Lausanne geboren — seit 1871 in Parıs wirkte und als 
Künstler, Theoretiker und Pädagoge zu den massgeblichen 
Wegbereitern des neuen Stil gehörte. 1897 schloss sich 
Giacometti seiner Schule an und lernte dort früh die Auto- 
nomie der künstlerischen Mittel und ihre Ausdruckskraft 
kennen. Zum zweiten Band von «La plante et ses applica- 
tions ornamentales» durfte der Schüler bereits das Titel- 
blatt und mehrere Tafeln beisteuern; dank einem Leihgeber 
vertritt die Musik, der grosse Detailentwurf für ein Decken- 
gemälde, diese grundlegende Stufe der Entwicklung Giaco- 
mettis im Kunsthaus. Wie bei Bonnard trug das Erlebnis 
der japanischen Holzschnitte zur Ausbildung eines konse- 
quent flächig dekorativen, antinaturalistischen Stils 
wesentlich bei. Bereits vor der Jahrhundertwende setzen 
aber auch die systematischen Farbstudien in Pastell ein, 
Abstraktionen nach Schmetterlingsflügeln und mittelalter- 
lichen Glasgemälden in wellenförmig begrenzten Quadrat- 
mustern. 
1902 übersiedelte Augusto Giacometti, fasziniert von 
Fra Angelico und der Frührenaissance, nach Florenz, und 
hier entstanden die grossen, sorgfältig erarbeiteten symbo- 
listischen Gemälde, in denen er zum eigenständigen 
Künstler reifte und die seinen Ruf begründeten. Bereits 
1903 gelangte die erste dieser Kompositionen, Die Nacht, 
mit der er sich am eidgenössischen Stipendienwettbewerb 
beteiligt hatte, als Leihgabe des Bundes in die Zürcher
	        
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