Full text: Jahresbericht 1991 (1991)

ÜBERRASCHENDES VON ÄLBERTO GIACOMETTI 
GESCHENKE AN DIE 
ALBERTO-GIACOMETTI-STIFTUNG 
UND EINE NEUE DAUERLEIHGABE 
Am 22. Januar 1991 starb erst 54jährig Silvio Berthoud. Er 
war das einzige Enkelkind von Annetta Giacometti und 
wurde von ihr bei seinem Vater in Genf erzogen, da seine 
Mutter Ottilie unmittelbar nach seiner Geburt starb. Als 
Alberto während des Krieges in der Schweiz wohnte, sah 
der kleine Knabe seinen Onkel fast täglich, und dieser 
zeichnete ihm wohl auch einmal ein Pferdchen oder 
dergleichen. Später wurde er Arzt, praktizierte viele Jahre in 
Afrika und war bis zuletzt in der Entwicklungshilfe tätig. 
Als wir ihn bei den Vorbereitungen für die Ausstellung «La 
Mamma a Stampa» kennenlernten, glich er dem alten 
Alberto frappant; er nahm lebhaft Anteil an dem Projekt 
und freute sich, alle die Bilder und Zeichnungen, die für 
ihn mit vielen Erinnerungen an die Jugendzeit verknüpft 
waren, neu zu sehen. Vor der Feier zum 25jährigen 
Bestehen nahm er erstmals an einer Sitzung des Stiftungs- 
rates teil; es sollte das einzige Mal bleiben. 
Zur Erinnerung an Silvio Berthoud schenkten Bruno 
und Odette Giacometti der Stiftung zwei Zeichnungen von 
Annetta Giacometti, die in der Ausstellung neben dem von 
ihnen 1988 geschenkten Relief von 1921 hingen!. Beim 
Betrachten der zahlreichen Studien, die Giovanni Giaco- 
metti nach seiner Gattin schuf, stiessen wir zu unserer 
Überraschung auf ein ungewöhnlich tonig ausgeführtes 
Blatt (Abb. 4), das Albertos Relief bis in beiläufige Einzel- 
heiten genau entspricht. Als er im Sommer 1921 unter dem 
frischen Eindruck der italienischen Frührenaissance aus 
einer zufällig vorhandenen Marmorplatte ein Flachrelief 
meisseln wollte?, wird er unter den vorhandenen Zeich- 
nungen eine geeignete Vorlage gesucht haben, denn ın 
Stein lässt sich kaum direkt nach dem Modell arbeiten. 
Dabei wurde ihm wohl bald deutlich, dass seine eigenen 
Skizzen zu linear aufgefasst sind und die benötigte Diffe- 
renzierung und Belebung der plastischen Oberfläche 
vermissen lassen. Nicht von ungefähr sind die intensivsten 
Blätter jener Zeit mit der Feder ausgeführt; die Kreidezeich- 
nung (Abb. 5), deren schülerhafte Signatur kaum nach 1917 
entstanden sein kann, blieb ein vereinzelter Versuch, die 
Form ganz aus Licht und Schatten zu modellieren. Obwohl 
er sich offensichtlich ausserordentlich Mühe gab — in der 
bewussten Verwendung der künstlerischen Mittel für einen 
Sechzehnjährigen ein wahrer Tour de force —, bricht die 
lineare Anschauungsweise doch immer wieder durch: man 
vergleiche etwa die Partie um den Mund mit dem Blatt 
Giovannis, in dem sich alle Begrenzungen aus den Hellig- 
keitsnuancen ergeben. Aus solch bruchlosem Atmen der 
Oberfläche lebt das Flachrelief; in Albertos Umsetzung 
drohen aber die weichen Schwellungen in Facettierungen 
auseinanderzubrechen. So kündigt sich bereits hier an, was 
in den akademischen Zeichnungen systematisch perfektio- 
niert wird und auch den modellierten Kopf der Mutter von 
19243 bestimmt: eine Analyse der dreidimensionalen Form 
in polygonalen Flächen. Im Cube von 1934, der ja unter 
anderem auch ein Kopf ist, wird sich diese Auffassung 
extrem ausprägen‘. 
Plastisches Empfinden ist ein Aspekt des individuellen 
Lebensgefühls und seine Gestaltung ein kaum beschreib- 
barer, aber gerade dadurch hoch differenzierter, tief unmit- 
telbarer Ausdruck für diese quasi anımalische Disposition. 
So entsprechen denn dem Unterschied in der Modellie- 
rung der Zeichnungen von Giovanni und Alberto zwei 
ganz verschiedene Auffassungen der dargestellten Person: 
zielt dieser streng auf die unverrückbare Präsenz, die 
Beschwörung des Daseins dieser Frau, so ist dies Giovanni 
fraglos gegeben; er sucht vielmehr den lebendigen 
Ausdruck, ein flüchtiges Lächeln, einen glänzenden Blick 
zu erfassen. Selten gelang ihm dies so schön wie in diesem 
Blatt, in dem die tiefe Sympathie mit Annetta unvergleich- 
lich weiterlebt. 
Im Sommer 1925 ereignete sich beim Porträtieren der 
Mutter jenes emphatische Scheitern in der abbildhaften 
Wiedergabe des Gesichtes, das den Umbruch zur 
abstrakten und surrealistischen Phase im Werk Alberto 
Giacomettis markiert”. «Abstrakt» ist hier im Sinne der 
Theorie der Zürcher «Konkreten» nicht als prinzipiell 
ungegenständlich zu verstehen; wie Giacometti später 
einmal selbst bemerkte, ging er nie so weıt®. Seine 
abstrakten Kompositionen beziehen sich auf ein figür-
	        
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