GEORG BASELITZ
«NACHTESSEN IN DRESDEN»
[m Jahresbericht 1990 der Zürcher Kunstgesellschaft habe
ich anlässlich der Erwerbung der Bilderwand «45» darzu-
legen versucht, welch entscheidende Wende zu Beginn der
30er Jahre die Arbeit am «Strassenbild» sowie der Durch-
bruch zum dreidimensionalen Schaffen für das gesamte
Werk von Georg Baselitz bedeutet: es war nach einer rund
LOjährigen Experimentierphase der Durchbruch zur atek-
tonischen, sich frei entfaltenden Raumfigur, zur «Konzen-
ration auf die Präsenz von Volumen»!,
Diese neue Auffassung der Figur wurde zunächst in
ziner Serie von «Strandbildern»?, wenig später in den
Folgen der «Orangenesser»? und der «Trinker»“ dargestellt.
Allen diesen Bildern gemeinsam ist die Konzentration auf
zıne Figur, wobei diese Figur häufig die Bildmitte
ainnimmt — ein vergleichsweise einfaches Kompositions-
prinzip, dem Baselitz immer wieder neue Bildwirkung
verleiht. «Die Mitte, wo ich ja meistens das „Ding“ drauf-
male», sagt er viel später in einem Interview5. Nur zweimal
erprobte er 1981/82 das neu erworbene Verhältnis von Figur
und Raum in einer zweifigurigen Komposition: in «Die
Mädchen von Olmo» und «Adieu»®.
Um so bedeutungsvoller nimmt sich vor diesem Hinter-
grund die gewaltige Herausforderung aus, die Format,
Konzept und Thematik des Gemäldes «Nachtessen in
Dresden», dem wenige Monate später der gleichformatige
«Brückechor»” folgt, für Baselitz bedeutet haben. Erstmals
in seinem Schaffen nahm der Künstler, der ja bereits früh zu
beachtlichen Bildformaten gefunden hatte, eine Leinwand
von 280 cm Höhe und 450 cm Breite in Angriff. Vergleichs-
weise selten hat er zudem das Querformat gewählt, das sich
in den beiden dem Thema der «Brückenmaler» gewid-
meten Bildern aus kompositionellen Gründen aufgedrängt
hat,
Wie viele der vorangegangenen Einfigurenbilder ist
auch «Nachtessen in Dresden» auf die Bildmitte zentriert:
in streng frontaler, axialsymmetrischer Haltung verlangt
die Zentralfigur mit ihren weit aufgerissenen Augen die
primäre Aufmerksamkeit des Betrachters, während die
seitlichen Figuren den Kopf bzw. die Köpfe den beiden
äusseren Bildrändern zuwenden. Diese Symmetrie, die
nicht in einer streng formalen Durchführung liegt, sondern
durch eine ausponderierte Gewichtung der kompositori-
schen Elemente evoziert wird, verleiht der ganzen Bildan-
lage trotz der offensichtlichen inneren Bewegtheit der
Figuren hieratische Ruhe und serene Würde. Unterstützt
wird die Konzentration auf die Mittelfigur durch einen
Pinselduktus, der verschiedene expressive Werte in ein und
demselben Bild vereinigt. Während die Zentralfigur mit
betonten schwarzen Konturen formal äusserst klar vorge-
:ragen und damit zu grösster Präsenz gesteigert wird,
scheint sich die konturenlose, in sich versunken gestikulie-
rende Gestalt links beinahe zu verflüchtigen; die Doppel-
figur rechts indessen wird von wild zuckenden Pinsel-
hieben durchgezogen, die an die kraftvollen Hiebe bei der
Bearbeitung der gleichzeitigen Holzskulpturen denken
iassen. Wobei sich angesichts des unterschiedlichen
Einsatzes von Pinselführung und plastischer Durchfor-
mung der Vergleich mit den dreidimensionalen Bildwerken
ohnehin aufdrängt: in «Gruss aus Oslo»? kontrastiert die
prall ausladende Formgebung des Kopfes mit seinen «über-
plastischen» Augen und der massigen Knollennase in
höchstem Masse zur gewollten Zurücknahme der volumi-
nösen Ausstrahlung der Hände und insbesondere der fuss-
losen Beine.
Diese Differenzierung in unterschiedliche Energie-
ströme, dieses Spiel von Zurücknehmen und Herausstellen
stellt jedoch nie die übergeordnete Einheit der Bildregie in
Frage. Souverän verteilt der Künstler die Gewichte, die
nicht nur durch die variable Intensität des malerischen
Gestus vorgetragen, sondern auch durch den magistralen
Farbakkord von Schwarz, Blau und Rosa definiert werden.
In beinahe konstruktiver Flächengliederung werden diese
drei Hauptfarben kontrastierend einander entgegenge-
setzt: Rosa ist primär dem Tisch sowie der Mittelfigur
vorbehalten, die blaue Kleidung der Figur links hebt sich
vom schwarzen Hintergrund ab, während die Doppelfigur
rechts schwarz gekleidet vor blauem Hintergrund
erscheint. Die Konzentration auf relativ wenige Farben —
neben dem erwähnten Dreiklang finden sich einige gelbe
Akzente, vor allem in den Gesichtern, wenig Weiss, Orange
und das Grün der Flasche — erzeugt nun keineswegs den