er bezüglich der «Winternacht» aus: «Das kann es also
nicht gewesen sein, was ihn dabei interessiert hat: weder der
Baum noch die Landschaft an sich. Sondern er hat —
dasselbe, was er bei allen anderen Bildern auch tut — diese
ırren Kreise da untergebracht; die hat er gesehen...» Und
weiter unten: «Man könnte sagen, dass ein psychischer
Zustand der Grund für das Bild war. Der Grund für das Bild
war nicht die Landschaft.» Und generell über Munch die
Aussage: «Es gibt ın Munchs Bildern eine Nervosität, eine
Aggressivität, eine Spannung, die man vergleichen kann
mit derjenigen in Geisteskranken-Bildern, etwas wahn-
sinnig Naives und Reissendes: Es zerrt immer.» Es ist diese
innere Gestimmtheit, die Baselitz und Munch verbindet.
Eine antiklassische Haltung, die nicht die Gegenstände
schildert, sondern die Gegenstände benützend das nicht
unmittelbar Sichtbare zum Thema erhebt. In diesem, für
Baselitz munchischen Sinn ist die oben zitierte Aussage zu
verstehen, wonach Umwelt zu illustrieren nicht sein
Problem ist.
In der Malerei von Baselitz taucht Munch erstmals 1982
auf; es entstehen mehrere Paraphrasen nach späten Selbst-
Dildnissen des Norwegers!?, In «Brückechor» schwebt
Munchs Kopf durch das Bildfeld, eine Formulierung, die in
ähnlicher Weise in den gleichzeitigen Bildern «Edvards
Geist» und «Edvards Kopf»? wieder aufgenommen wird.
Der Stilisierung von Munchs Kopf in diesen Werken ist in
«Nachtessen in Dresden» der Kopf von Schmidt-Rottluff
angeglichen: immer wieder dieselben entsetzt weit aufgeris-
senen Augen, derselbe schreiende Mund. Es wäre sicher
falsch, für diese Stilisierung eine direkte Abhängigkeit im
Werk von Munch zu suchen — Baselitz ist kein Kopist —
dennoch: Munchs 1893 entstandenes Bild «Der Schrei»
Nationalgalerie Oslo) zeigt im Kopf der Vordergrunds-
figur — der Verkörperung von Munchs Lebensangst — eine
“ormgebung (aufgerissene Augen, die Pupillen von einem
weissen Kreis umgeben, ein weitgeöffneter schwarz kontu-
tierter Mund), die zumindest im Ausdruck der
3aselitzschen Formulierung verwandt ist. Es kann jedoch
nicht von formalen Übernahmen gesprochen werden; es ist
vielmehr eine innere Gespanntheit und verwandte see-
lische Disposition, die die beiden Maler verbindet: Beide
erfinden Motive, denen derselbe Grad von Erregtheit und
Energie eigen ist.
«Er malt so, wie nur eine nackte Individualität sehen
kann, deren Augen sich von der Welt der Erscheinungen
abgewendet und nach Innen gekehrt haben.» Baselitz?
Munch? Den Satz hat Stanislaw Przybyszewski 1894 in
seiner Munchbiographie bei der Schilderung des Bildes
«Der Schrei» geschrieben!*.
Felix Baumann
Anmerkungen:
l Franzke S. 155.
Ich verzichte darauf, in diesem Text noch einmal ausführlich auf das
Problem der Motivumkehr zu sprechen zu kommen, da dieses in der
reichhaltigen Literatur über Baselitz und auch in meinem letztjährigen
Text zu «45» ausgiebig zur Sprache gekommen ist.
* Franzke Abb. 136, 146; Katalog Zürich/Düsseldorf Nr. 39. 40.
Franzke Abb. 138, 139.
' Franzke Abb. 140-142; Katalog Zürich/Düsseldorf Nr. 41—3.
Gespräch über «45» mit Dieter Koepplin in: Georg Baselitz «45», Reihe
Cantz, Stuttgart 1991. S. 25.
> Franzke Abb. 147, 149; Katalog Zürich/Düsseldorf Nr. 45.
Katalog Zürich/Düsseldorf Nr. 49.
} Jahresbericht der Zürcher Kunstgesellschaft 1989, Abb. 14.
? Franzke, Abb. 172, 174, 177, 180, 181.
! Katalog Ausstellung «Edvard Munch, Sein Werk in Schweizer Samm-
‚ungen», Kunstmuseum Basel 1985, S. 145ff.; Kunst-Bulletin des
Schweizerischen Kunstvereins, Juli/August 1985, S. 16f
’! Franzke Abb. 155, 156.
Siehe auch Katalog Ausstellung Baselitz, Galerie d’Offay, London 1982.
3 Ausstellung Georg Baselitz, Galerie Beyeler, Basel, 1986 Nr. 37, 38.
4 Stanislaw Przybyszewski, Das Werk des Edvard Munch., Berlin 1894
S 74fF
4
Abkürzungen:
- Franzke = Andreas Franzke, Georg Baselitz, München 1988.
Katalog Zürich/Düsseldorf: Katalog zur Ausstellung Georg Baselitz,
Kunsthaus Zürich, 23. Mai-8. Juli 1990 und Städtische Kunsthalle
Düsseldorf, 28. Juli—9. September 1990.