Full text: Jahresbericht 1991 (1991)

Miriam Cahn nach ihrer Rückkehr aus Berlin im Garten 
hinter ihrem neuen Atelier in Basel mitverfolgen kann. Der 
Betrachter erfährt vor diesen Zeichnungen ganz sinnlich 
das Wachstum der Bäume, das Spriessen der Keimlinge, das 
Aufbrechen der Knospen. Die grossen Landschaftszeich- 
nungen ziehen den Blick in die Tiefe, in das dichte Geflecht 
von Linien und Energiewirbeln. Meist sind die Blätter mit 
geschlossenen Augen gezeichnet, wieder ein Mittel, um der 
Perfektion und dem traditionellen Ideal der «schönen» 
Zeichnung zu entgehen. «die bewegung der pflanzen kann 
ich nur sehen, wenn ich mit geschlossenen augen zeichne: 
ich schliesse die augen und ahme die bewegung der 
pflanzen nach». Das erinnert an C. D. Friedrichs berühmt 
gewordene Forderung an den Künstler: «Schliesse dein 
leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst 
siehst dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln 
gesehen, dass es zurückwirke auf andere von aussen nach 
innen.» Dabei kann es geschehen, dass Äste, wie auseinan- 
dergebrochen, versetzt weitergehen, offene Wurzelstränge 
nach unten und nach oben wachsen und ein Stück Moos 
vom Boden losgelöst im Raum schwebt. Obwohl Miriam 
Cahn von realen Dingen ausgeht, geht es ihr nicht um das 
ABilden, sondern um einen Vorstellungsablauf. Ihr inneres 
Auge hält sich für den Frühling an die Reihenfolge Wasser, 
Erde, Samen, Wurzeln, Stamm, Äste, Knospen. Ihre 
Vorstellung folgt dabei den Wachstumsenergien des 
Baumes und ihrer eigenen Körpererinnerung. Es gelingt ihr 
mit dieser Methode, spontan Persönliches einzubringen. 
Sie entdeckt in dem Wachsen, Fliessen und Strömen 
Verwandtschaften zwischen Natur, Mensch und Tier, 
macht jedoch gleichzeitig auf ihre Unvereinbarkeit 
aufmerksam. «wenn ich mit geschlossenen augen pflanzen 
zeichne, bin ich baum, blume, moos — aber auch: 
geschwür. die verwandtschaften zwischen pflanzen und 
geschwüren ist die wachstumsenergie. die wachstums- 
energie der geschwüre entsteht im körper und ist von der 
seele abhängig.» Mit der kritischen Haltung, die ihr 
gesamtes Werk bestimmt, und mit der Betroffenheit 
unserer heutigen Situation gegenüber geht Miriam Cahn 
auch das Thema Natur an: «in der arbeit kunst so wie ıch sie 
verstehe heisst verwandtschaft mit natur neu darüber nach- 
denken, arbeiten und handeln, was pflanze, tier, landschaft 
mir (d.h. allen) ist. mein pflanzensein, mein landschafts- 
sein, meın gesteinssein, mein tiersein sind mein politischer 
und öffentlicher teil, genauso, wie mein frausein mein poli- 
tischer und öffentlicher teil ist.» 
Ursula Perucchi-Petri 
Anmerkungen: 
1983 kaufte sie zwei grossformatige Zeichnungen «Handelsschiff» und 
«Wägelchen» und die sechsteilige Serie «Blutungsarbeit» von 1982 und 
ergänzte diese Werke 1987 mit der achtteiligen Aquarellserie «A- und 
H-Tests» von 1986. 
‚983 erwarben wir das Heft mit 32 Zeichnungen «beirut, beirut» 1982, 
‚984 die elfteilige Folge «augenblickserie, weinte sie» von 1982 und «etat 
de guerre», eine Serie von sieben Zeichnungen von 1983. Zum anderen 
haben wir Miriam Cahn immer wieder ausgestellt, zum Beispiel 1982 
den «Wachraum» im Erdgeschoss, das waren Existenzbilder, in denen 
die Ohnmacht der Frau, ihr Leiden und ihr Ausgeliefertsein in dem 
Zeichen des Krankenbetts symbolisiert wurden. 1983 zeigten wir eigene 
Werke in der Ausstellung «Bilder der Angst und Bedrohung» im Graphi- 
schen Kabinett, und 1987 nahm Miriam Cahn an «Stiller Nachmittag — 
Aspekte Junger Schweizer Kunst» teil. Für nächstes Jahr planen wir eine 
grössere Einzelausstellung. 
Informationsblatt zur Ausstellung der Raumarbeit im Kunsthaus 
Zürich vom 6. 9.—9.12.1991. 
Die Zitate sind einem Text von Miriam Cahn entnommen in: Künstler, 
Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst. Ausgabe 6. WB Verlag 
München 1989, 5.2. 
Dieses und das folgende Zitat sind einem Merkblatt von Miriam Cahn 
von 1990 entnommen: «Verwandtschaften, Abhängigkeiten, Unverein- 
barkeiten und die Arbeit Kunst».
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.