Miriam Cahn nach ihrer Rückkehr aus Berlin im Garten
hinter ihrem neuen Atelier in Basel mitverfolgen kann. Der
Betrachter erfährt vor diesen Zeichnungen ganz sinnlich
das Wachstum der Bäume, das Spriessen der Keimlinge, das
Aufbrechen der Knospen. Die grossen Landschaftszeich-
nungen ziehen den Blick in die Tiefe, in das dichte Geflecht
von Linien und Energiewirbeln. Meist sind die Blätter mit
geschlossenen Augen gezeichnet, wieder ein Mittel, um der
Perfektion und dem traditionellen Ideal der «schönen»
Zeichnung zu entgehen. «die bewegung der pflanzen kann
ich nur sehen, wenn ich mit geschlossenen augen zeichne:
ich schliesse die augen und ahme die bewegung der
pflanzen nach». Das erinnert an C. D. Friedrichs berühmt
gewordene Forderung an den Künstler: «Schliesse dein
leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst
siehst dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln
gesehen, dass es zurückwirke auf andere von aussen nach
innen.» Dabei kann es geschehen, dass Äste, wie auseinan-
dergebrochen, versetzt weitergehen, offene Wurzelstränge
nach unten und nach oben wachsen und ein Stück Moos
vom Boden losgelöst im Raum schwebt. Obwohl Miriam
Cahn von realen Dingen ausgeht, geht es ihr nicht um das
ABilden, sondern um einen Vorstellungsablauf. Ihr inneres
Auge hält sich für den Frühling an die Reihenfolge Wasser,
Erde, Samen, Wurzeln, Stamm, Äste, Knospen. Ihre
Vorstellung folgt dabei den Wachstumsenergien des
Baumes und ihrer eigenen Körpererinnerung. Es gelingt ihr
mit dieser Methode, spontan Persönliches einzubringen.
Sie entdeckt in dem Wachsen, Fliessen und Strömen
Verwandtschaften zwischen Natur, Mensch und Tier,
macht jedoch gleichzeitig auf ihre Unvereinbarkeit
aufmerksam. «wenn ich mit geschlossenen augen pflanzen
zeichne, bin ich baum, blume, moos — aber auch:
geschwür. die verwandtschaften zwischen pflanzen und
geschwüren ist die wachstumsenergie. die wachstums-
energie der geschwüre entsteht im körper und ist von der
seele abhängig.» Mit der kritischen Haltung, die ihr
gesamtes Werk bestimmt, und mit der Betroffenheit
unserer heutigen Situation gegenüber geht Miriam Cahn
auch das Thema Natur an: «in der arbeit kunst so wie ıch sie
verstehe heisst verwandtschaft mit natur neu darüber nach-
denken, arbeiten und handeln, was pflanze, tier, landschaft
mir (d.h. allen) ist. mein pflanzensein, mein landschafts-
sein, meın gesteinssein, mein tiersein sind mein politischer
und öffentlicher teil, genauso, wie mein frausein mein poli-
tischer und öffentlicher teil ist.»
Ursula Perucchi-Petri
Anmerkungen:
1983 kaufte sie zwei grossformatige Zeichnungen «Handelsschiff» und
«Wägelchen» und die sechsteilige Serie «Blutungsarbeit» von 1982 und
ergänzte diese Werke 1987 mit der achtteiligen Aquarellserie «A- und
H-Tests» von 1986.
‚983 erwarben wir das Heft mit 32 Zeichnungen «beirut, beirut» 1982,
‚984 die elfteilige Folge «augenblickserie, weinte sie» von 1982 und «etat
de guerre», eine Serie von sieben Zeichnungen von 1983. Zum anderen
haben wir Miriam Cahn immer wieder ausgestellt, zum Beispiel 1982
den «Wachraum» im Erdgeschoss, das waren Existenzbilder, in denen
die Ohnmacht der Frau, ihr Leiden und ihr Ausgeliefertsein in dem
Zeichen des Krankenbetts symbolisiert wurden. 1983 zeigten wir eigene
Werke in der Ausstellung «Bilder der Angst und Bedrohung» im Graphi-
schen Kabinett, und 1987 nahm Miriam Cahn an «Stiller Nachmittag —
Aspekte Junger Schweizer Kunst» teil. Für nächstes Jahr planen wir eine
grössere Einzelausstellung.
Informationsblatt zur Ausstellung der Raumarbeit im Kunsthaus
Zürich vom 6. 9.—9.12.1991.
Die Zitate sind einem Text von Miriam Cahn entnommen in: Künstler,
Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst. Ausgabe 6. WB Verlag
München 1989, 5.2.
Dieses und das folgende Zitat sind einem Merkblatt von Miriam Cahn
von 1990 entnommen: «Verwandtschaften, Abhängigkeiten, Unverein-
barkeiten und die Arbeit Kunst».