Full text: Jahresbericht 1991 (1991)

WOLFGANG LAIB: «EIN BIENENWACHSHAUS» 
Fünf kleine Kegel aus Blütenstaub, ungefähr 7 cm hoch, hat 
Wolfgang Laib 1985 in der Ausstellung «Spuren, Skulpturen 
ınd Monumente ihrer präzisen Reise» ausgestellt. Er 
nannte sie «Die unbesteigbaren Berge». Es war die präzi- 
seste Präsenz zur intendierten Herbeiführung einer 
Wende: Stark wie das Echo, schwach wie die Monumente. 
Sie bestanden aus einem wichtigen Material, sie: waren 
trotz ihrer Kleinheit ehrfurchtgebietend und eben unbe- 
steigbar, da so zart und fragil. 
Seit den achtziger Jahren, im schroffen Gegensatz zur 
vorherrschenden «wilden Malerei», ist Wolfgang Laib der 
Künstler, der still und beharrlich, streng mit sich und der 
lauten Umwelt die ideellen und ethischen Werte der Kunst 
zum Tema seiner Arbeit macht. Der ehemalige Arzt intu- 
iert im Vegetarismus, in der Reinkarnation, der orientali- 
schen Lebensweise und Gedankenwelt Energien, die er 
seinen stillen Werken als neue ästhetische Kraft, als 
Bewusstsein eingibt. Darüber hinaus ist Laib ein Künstler, 
der die Sprache zeitgenössischer Plastik beherrscht, und 
von der Eigenständigkeit des Kunstwerkes ist er zutiefst 
überzeugt. Seine Form- und Geistsuche ist die Herstellung 
der Gleichung von Spiritualität als Material, Form, Raum 
and Zeit in dem sichtbaren und unantastbaren Einen. 
Es sind Grundstoffe, die Laib verwendet, so konkret, 
dass eigentlich die Frage nach der Abstraktion obsolet wird. 
Und doch ist Abstraktes für ihn Mittel für die Schaffung 
zines präsenten Mikrokosmos, der den Makrokosmos in 
sich birgt, in dem Organisches sich dem Anorganischen 
verbindet, in dem Skulptur zum Schrein, Blütenstaub zu 
reinem Pigment, zu Weite, zu Bergwelt wird. «Reishaus», 
«Wachshaus», Felder aus Pollen, «Milchsteine», das sind die 
Formen. Mit ihnen konfrontiert erlebt man, dass dies nicht 
einfach Objekte sind, und auch keine Skulpturen kleiner 
oder mittlerer Abmessung, vielmehr plastische Aussagen, 
die zur Meditation anregen: meditieren über das Fragile 
und Unberührbare, meditieren über die Materie, medi- 
tieren über die Zeugung in der Natur und im Denken, 
meditieren über das reine Pigment und den Reichtum 
intensivster Gelbtöne von Blütenstaub wie auch seines 
Duftes, meditieren über die Reinheit, meditieren über die 
Zeit —die Zeit, die der Künstler investiert, seine eigene Zeit, 
die Zeit in der Natur, die universale Zeit. So wird Nichtspek- 
takuläres zum Ereignis: der Blütenstaub zum heiligen Berg; 
der Quader aus weissem Carrara-Marmor vollzieht die 
Osmose mit der Milch, und diese beiden Stoffe, flüssig und 
fest, werden eins; während der Reis das Haus ohne 
Öffnungen gleichzeitig verlässt und betritt. Quader 
Konus, Haus-Schrein und Feld sind Bodenskulpturen. 
Neuerdings hat Wolfgang Laib seinem Werkbaum neue 
Jahrringe wachsen lassen. Seit zwei Jahren arbeitet er mit 
einem neuen Material, einem uralt-neuen, das nach neuen 
Räumen rief, um dem Sehenden, dem Mitschwingenden 
einen «anderen Körper» zu geben. Bienenwachs, dieser 
Naturstoff, mit dem die Ägypter ihre Mumien beschich- 
teten und der zu allen Zeiten für Votivgaben und zur 
Verstärkung der Leuchtkraft der Farben verwendet wurde, 
dieser verhalten, aber voll duftende, in sich ruhende. 
dunkelgoldgelbe Stoff, aus seinen Platten fügt und formt 
Laib Orte der Andacht und Wände der Revelation eines 
Geheimnisses, des positiven Nichts, des nicht zu fassenden 
Unfasslichen, eines «blinden, schwarzen Nirgendwohin» 
(Hans-Joachim Müller). In diesen Räumen, auf diesen 
Wegen, vor und in seinen Wänden wird es reine Präsenz 
Und seit zwei Jahren placiert Wolfgang Laib seine Wachs- 
häuser nicht mehr auf dem Boden. Er hebt die Basis an. Das 
Wachshaus steht zuerst auf zwei Balken und neuerdings wie 
in unserem Werk (Abb. 16) auf einer Granitplatte aus dem 
Maggiatal hoch an der Wand, hoch, wie die Bergsteiger 
sagen, in der Wand. Frühe Reisebeschreibungen des Tibet, 
der Stadt Lhasa, stellen sich vor diesem einsamen Haus ein, 
das als Skulptur der Unerreichbarkeit, der schöpferischen 
Einsamkeit und Innerlichkeit Gestalt gibt und von der 
Schwerelosigkeit zu uns spricht. 
Wolfgang Laib ist kein Europäer indisch-tibetanische: 
Prägung, der sich des Kontextes der Kunst bedient; er 1s! 
vielmehr ein bewusst zeitgenössischer Künstler, der durch 
kleinste skulpturale Gesten unermesslich weite innere
	        
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