WOLFGANG LAIB: «EIN BIENENWACHSHAUS»
Fünf kleine Kegel aus Blütenstaub, ungefähr 7 cm hoch, hat
Wolfgang Laib 1985 in der Ausstellung «Spuren, Skulpturen
ınd Monumente ihrer präzisen Reise» ausgestellt. Er
nannte sie «Die unbesteigbaren Berge». Es war die präzi-
seste Präsenz zur intendierten Herbeiführung einer
Wende: Stark wie das Echo, schwach wie die Monumente.
Sie bestanden aus einem wichtigen Material, sie: waren
trotz ihrer Kleinheit ehrfurchtgebietend und eben unbe-
steigbar, da so zart und fragil.
Seit den achtziger Jahren, im schroffen Gegensatz zur
vorherrschenden «wilden Malerei», ist Wolfgang Laib der
Künstler, der still und beharrlich, streng mit sich und der
lauten Umwelt die ideellen und ethischen Werte der Kunst
zum Tema seiner Arbeit macht. Der ehemalige Arzt intu-
iert im Vegetarismus, in der Reinkarnation, der orientali-
schen Lebensweise und Gedankenwelt Energien, die er
seinen stillen Werken als neue ästhetische Kraft, als
Bewusstsein eingibt. Darüber hinaus ist Laib ein Künstler,
der die Sprache zeitgenössischer Plastik beherrscht, und
von der Eigenständigkeit des Kunstwerkes ist er zutiefst
überzeugt. Seine Form- und Geistsuche ist die Herstellung
der Gleichung von Spiritualität als Material, Form, Raum
and Zeit in dem sichtbaren und unantastbaren Einen.
Es sind Grundstoffe, die Laib verwendet, so konkret,
dass eigentlich die Frage nach der Abstraktion obsolet wird.
Und doch ist Abstraktes für ihn Mittel für die Schaffung
zines präsenten Mikrokosmos, der den Makrokosmos in
sich birgt, in dem Organisches sich dem Anorganischen
verbindet, in dem Skulptur zum Schrein, Blütenstaub zu
reinem Pigment, zu Weite, zu Bergwelt wird. «Reishaus»,
«Wachshaus», Felder aus Pollen, «Milchsteine», das sind die
Formen. Mit ihnen konfrontiert erlebt man, dass dies nicht
einfach Objekte sind, und auch keine Skulpturen kleiner
oder mittlerer Abmessung, vielmehr plastische Aussagen,
die zur Meditation anregen: meditieren über das Fragile
und Unberührbare, meditieren über die Materie, medi-
tieren über die Zeugung in der Natur und im Denken,
meditieren über das reine Pigment und den Reichtum
intensivster Gelbtöne von Blütenstaub wie auch seines
Duftes, meditieren über die Reinheit, meditieren über die
Zeit —die Zeit, die der Künstler investiert, seine eigene Zeit,
die Zeit in der Natur, die universale Zeit. So wird Nichtspek-
takuläres zum Ereignis: der Blütenstaub zum heiligen Berg;
der Quader aus weissem Carrara-Marmor vollzieht die
Osmose mit der Milch, und diese beiden Stoffe, flüssig und
fest, werden eins; während der Reis das Haus ohne
Öffnungen gleichzeitig verlässt und betritt. Quader
Konus, Haus-Schrein und Feld sind Bodenskulpturen.
Neuerdings hat Wolfgang Laib seinem Werkbaum neue
Jahrringe wachsen lassen. Seit zwei Jahren arbeitet er mit
einem neuen Material, einem uralt-neuen, das nach neuen
Räumen rief, um dem Sehenden, dem Mitschwingenden
einen «anderen Körper» zu geben. Bienenwachs, dieser
Naturstoff, mit dem die Ägypter ihre Mumien beschich-
teten und der zu allen Zeiten für Votivgaben und zur
Verstärkung der Leuchtkraft der Farben verwendet wurde,
dieser verhalten, aber voll duftende, in sich ruhende.
dunkelgoldgelbe Stoff, aus seinen Platten fügt und formt
Laib Orte der Andacht und Wände der Revelation eines
Geheimnisses, des positiven Nichts, des nicht zu fassenden
Unfasslichen, eines «blinden, schwarzen Nirgendwohin»
(Hans-Joachim Müller). In diesen Räumen, auf diesen
Wegen, vor und in seinen Wänden wird es reine Präsenz
Und seit zwei Jahren placiert Wolfgang Laib seine Wachs-
häuser nicht mehr auf dem Boden. Er hebt die Basis an. Das
Wachshaus steht zuerst auf zwei Balken und neuerdings wie
in unserem Werk (Abb. 16) auf einer Granitplatte aus dem
Maggiatal hoch an der Wand, hoch, wie die Bergsteiger
sagen, in der Wand. Frühe Reisebeschreibungen des Tibet,
der Stadt Lhasa, stellen sich vor diesem einsamen Haus ein,
das als Skulptur der Unerreichbarkeit, der schöpferischen
Einsamkeit und Innerlichkeit Gestalt gibt und von der
Schwerelosigkeit zu uns spricht.
Wolfgang Laib ist kein Europäer indisch-tibetanische:
Prägung, der sich des Kontextes der Kunst bedient; er 1s!
vielmehr ein bewusst zeitgenössischer Künstler, der durch
kleinste skulpturale Gesten unermesslich weite innere