Full text: Jahresbericht 1992 (1992)

Dass de Heem ein Nonplusultra in der Vergegenwärti- 
zung der Gegenstände erreicht hat, ist evident: es geht 
möglicherweise noch anders — aber in dieser Weise nicht 
noch intensiver. Das primäre, naive Vergnügen der 
täuschenden Nachahmung der Wirklichkeit wird voll- 
ständig befriedigt. Und indem nicht nur die Dinge, ihre 
Anordnung, das Licht und die Atmosphäre fixiert werden, 
sondern die flache Tafel dem Blick des Betrachters immer 
den gleichen Gesichtspunkt zeigt, erhalten die «ver- 
ewigten» Dinge eine fast beunruhigende Überdeutlichkeit, 
die zur Analyse der malerischen Grundlage des Effektes 
herausfordert. Versenkt man sich nun in die Einzelheiten, 
so erstaunt die Engführung der Pinselarbeit mit den 
evozierten optischen Phänomenen; es braucht schon eine 
ganz aussergewöhnliche «exakte sinnliche Phantasie», um 
eine solche Fülle von Differenzierungen der Reflexe und 
Brechungen in den Gläsern zu erfassen oder zugleich die 
Oberfläche der Trauben und ihr durchleuchtetes Frucht- 
fleisch mit dem opaken Kern wiederzugeben und die 
Beeren erst noch nach Massgabe ihrer Entfernung und 
Beleuchtung hervor- oder zurücktreten zu lassen. Zur 
Energie der Wirkung gehört die Eigenwertigkeit der 
Malerei als solcher, die vor allem dort einsichtig wird, wo 
der Gegenstand grössere Freiheit zulässt wie im Taft der 
Tischdecke, im Hintergrund oder bei den Blättern. 
Eine gestalterzeugende Vorstellungskraft herrscht vom 
kleinsten Detail bis zur Gesamtkomposition. Die gelben 
Formen am rechten Rand des Römers, in denen sich das 
durch den Wein gefärbte Licht mit Spiegelungen der 
Zitrone trifft, entziehen sich durch die Komplexität der 
Reflexe der inhaltlichen Analyse und gewinnen doch rein 
durch ihre abstrakten Qualitäten faszinierende Notwendig- 
keit. Die ornamentale Spannung der Ranken vermittelt die 
Energie, die den Ast über die Trauben hochstemmt und das 
untere Blatt wie im Dialog dem oberen zuwendet; in den 
sich antwortenden Krümmungen der Fühler des Hummers 
scheint das im Kochen grausam verendete Tier wieder 
lebendig zu werden. Und selbst die sich nach links in stei- 
gerndem Rhythmus stauenden Falten scheint ein merk- 
würdiger ästhetischer Animismus zu beseelen, der an 
Spinozas Pantheismus denken lässt: «Unter Leben 
verstehen wir die Kraft, durch die ein Ding in seinem Sein 
verharrt. Da diese Kraft von den Dingen selbst verschieden 
ist, so sagt man passend, dass die Dinge selbst Leben haben. 
Da aber die Kraft, durch die Gott in seinem Sein verharrt, 
nichts anderes ist, als sein Wesen, so drückt man sich am 
besten aus, wenn man Gott Leben nennt.» Und wie hier 
Immanenz und Transzendenz, Kontingenz und Selbster- 
haltung des Irdischen wie in einem archimedischen Punkt 
in die Schwebe gebracht sind, scheint auch de Heems Bild 
von der Ausspannung der Gegensätze und ihrer versöh- 
nenden Vereinigung durchwaltet zu sein. 
Betrachtet man nun die einzelnen Gestaltungsmittel als 
Systeme, enthüllt sich der angesprochene modellhafte 
Charakter des Werkes in wünschbarer Deutlichkeit. So 
werden gleich vorn die drei Grundfarben Rot, Blau und 
Gelb derart grossflächig und in so strahlender Reinheit 
»xponiert, wie man es in älteren Bildern kaum je findet. 
Und ihnen unmittelbar zugeordnet, erscheinen ihre 
Komplementärfarben: grüne Trauben über dem roten 
Hummer, violette hinter der Zitrone und orange Gold- 
fransen am blauen Tischtuch. Die Ordnung wirkt so syste- 
matisch, dass man sich fragen kann, ob nicht ein bewusster 
Bezug zu der neuen, 1613 von Anguilonius in seiner 
«Optica» publizierten Farbtheorie vorliegt, und dies um so 
»her, als er das Orange «Aureus» (goldfarbig) nennt und 
auch die zu seinem Schema gehörenden Extremwerte des 
Weissen und Schwarzen im Messergriff aus Perlmutter und 
Ebenholz ins Bild gebracht werden. Die Fülle der verbin- 
denden Zwischentöne, der ins Helle und ins Dunkle abge- 
stuften Entsprechungen auf der Netzhaut schmelzen zu 
iassen, kann dem geniessenden Betrachter des Originals 
ebenso überlassen bleiben wie die Beobachtung der 
vermittelnden Reflexlichter oder die Verschiebung von 
grünlichen zu rötlich-violetten Tönen im Blau des Taftes. 
Überdie hinteren Gegenstände und ihre zunehmend abge- 
dämpften Sekundärfarben vermischt sich das Spektrum bis 
zu den unbunten Tönen der Wand, die zwischen Olivgrün 
and Ockerbraun spielen und so ebenso wie das höchste 
Weiss der Reflexe und das tiefe Schwarz in der dunkelsten 
Partie.des Grundes unten links alle Farben in sich vereint 
und ausgleicht. 
Damit vollendet sich eine historische Entwicklung, die 
zwei Generationen früher mit der Ausbildung des Still- 
lebens als selbständiger Gattung einsetzte. In der Samm- 
lung Koetser vertritt das reizende Bild von Isaak Soreau die
	        
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