Full text: Jahresbericht 1992 (1992)

TISCHBEINS BRUTUS — 
EIN HAUPTWERK DES DEUTSCHEN KLASSIZISMUS 
AUS ZÜRCHER GEIST 
Welch Kommen und Gehen interessanter Köpfe in Zürich 
um 1780! Im Winter 1778/79 erhitzte der 1762 nach der 
Denunzierung eines korrupten Landvogtes mit Lavater 
und Hess aus der Vaterstadt gewichene Füssli die Gemüter; 
aus Rom kommend, verblüffte er nun mit seiner exzen- 
trisch neuartigen, den Hochklassizismus einleitenden 
Kunst und verlebte einen Winter in Freundschaftsnostal- 
gien und Liebeswirren, die ihn im Frühling fluchtartig nach 
London, seiner Wahlheimat, weiter trieben. Im Spätherbst 
erschien Goethe und stieg für vierzehn Tage bei Lavater ab. 
Von prächtigem Wetter begünstigt, hatte er mit seinem 
Herzog Carl August von Weimar die Alpen vom Mont 
Blanc bis zum Gotthard durchzogen; schaute dort nach 
italien hinunter und kehrte wieder um. Vor vier Jahren 
natte er noch als Stürmer und Dränger Auf dem See 
gedichtet: 
«Ich saug’ an meiner Nabelschnur 
Nun Nahrung aus der Welt. 
Und herrlich rings ist die Natur, 
Die mich am Busen hält!» 
Doch nun brachte er aus dem Lauterbrunnental den Gesang 
der Geister über dem Wasser mit: 
«Und in dem glatten See 
Weiden ihr Antlitz 
Alle Gestirne.» 
Und während Füssli die Nachtmahr ausheckte, hatte Goethe 
in der Iphigenie auf Thuris die Erlösung des Orestes, den er bei 
der Uraufführung selbst spielte, von den Furien seiner 
genialischen Jugendzeit gestaltet. Der Empfang bei dem 
alten Johann Jacob Bodmer blieb kühl; der greise «Vater der 
Jünglinge», der mit seiner Überwindung der Regelästhetik 
zugunsten des ursprünglich Genialen und poetisch 
Wunderbaren, seinem Lob Homers, Shakespeares und der 
republikanischen Heldentugenden erst den neuen Auf- 
schwung der deutschen Dichtung auslöste, hatte ihm seine 
Freizügigkeiten noch nicht vergessen. 
Anfang Mai übers Jahr klopft bei Lavater Johann Hein- 
rich Wilhelm Tischbein (1751-1829)! an: sein zweijähriges 
Rom-Stipendium war zu Ende gekommen, bevor er vor 
lauter Staunen und Studieren ein eigenes Werk vollenden 
konnte, und so musste er ganz gegen seinen Willen wieder 
nach Norden ziehen. In Zürich hoffte er zunächst seinen 
Beutel durch Portraitaufträge zu füllen und zugleich neue 
Unterstützung zur Fortsetzung seines Studiums zu 
erlangen. Wohl mit Empfehlungen des Schweizer Bild- 
hauers Alexander Trippel, in dessen Atelier er in Rom nach 
dem Modell gezeichnet hatte, versehen, wurde er mit 
offenen Armen empfangen, und bereits am 17. Mai 1781 
schrieb Lavater begeistert an Carl August nach Weimar: 
«Der herrliche Tischbein ist izt bei uns; o, wenn er Sie und 
Goethe mahlte!»? Offensichtlich hatte der junge Künstler 
bereits überzeugende Proben seines Könnens abgelegt, 
vermutlich gar schon Lavaters Bildnis gemalt, das — noch 
stets von seinen Nachkommen verwahrt —jüngst bei dessen 
Gedächtnisausstellung im Strauhof mit anderen Familien- 
bildnissen wieder einmal öffentlich zu sehen war.? Über 
dem straffen Oberkörper sitzt der Kopf im genauen Profil; 
gut erfasst und exakt gezeichnet, erscheint das Bild in ganz 
gedämpften Tönen und ohne aufdringliche malerische 
Reize: doch gerade in dieser ungeschmückt objektivie- 
renden Darstellungsweise trafen sich die Absichten von 
Maler und Modell. Wie kam es, dass hier endlich ein 
Meister den Vorstellungen des leidenschaftlichen Physio- 
gnomikers entsprechen konnte? 
Die Malerfamilie Tischbein* war damals im ganzen 
deutschen Sprachbereich berühmt. Der Stammvater war 
Klosterbäcker im hessischen Heina gewesen, einer Stiftung 
für Arme und körperlich oder geistig Behinderte; sein 
ältester Sohn, Johann Heinrich Wilhelms Vater, folgte ihm 
in diesem Amt. Sein Bruder Valentin aber fiel einem hessi- 
schen Rat auf; wie er als Knabe in der Klosterkirche zeich- 
nete, und er vermittelte ihm eine Lehrstelle in der Frank- 
furter Tapetenfabrik: hieher liess er seine vier jüngeren 
Brüder nachkommen, und von hier verbreiteten sich die 
fünf Tischbein der ersten Generation von Mainz bis nach 
Lübeck. Der bedeutendste, Johann Heinrich, wurde Hof- 
maler und Akademiedirektor in Kassel: er unterrichtete
	        
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