TISCHBEINS BRUTUS —
EIN HAUPTWERK DES DEUTSCHEN KLASSIZISMUS
AUS ZÜRCHER GEIST
Welch Kommen und Gehen interessanter Köpfe in Zürich
um 1780! Im Winter 1778/79 erhitzte der 1762 nach der
Denunzierung eines korrupten Landvogtes mit Lavater
und Hess aus der Vaterstadt gewichene Füssli die Gemüter;
aus Rom kommend, verblüffte er nun mit seiner exzen-
trisch neuartigen, den Hochklassizismus einleitenden
Kunst und verlebte einen Winter in Freundschaftsnostal-
gien und Liebeswirren, die ihn im Frühling fluchtartig nach
London, seiner Wahlheimat, weiter trieben. Im Spätherbst
erschien Goethe und stieg für vierzehn Tage bei Lavater ab.
Von prächtigem Wetter begünstigt, hatte er mit seinem
Herzog Carl August von Weimar die Alpen vom Mont
Blanc bis zum Gotthard durchzogen; schaute dort nach
italien hinunter und kehrte wieder um. Vor vier Jahren
natte er noch als Stürmer und Dränger Auf dem See
gedichtet:
«Ich saug’ an meiner Nabelschnur
Nun Nahrung aus der Welt.
Und herrlich rings ist die Natur,
Die mich am Busen hält!»
Doch nun brachte er aus dem Lauterbrunnental den Gesang
der Geister über dem Wasser mit:
«Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.»
Und während Füssli die Nachtmahr ausheckte, hatte Goethe
in der Iphigenie auf Thuris die Erlösung des Orestes, den er bei
der Uraufführung selbst spielte, von den Furien seiner
genialischen Jugendzeit gestaltet. Der Empfang bei dem
alten Johann Jacob Bodmer blieb kühl; der greise «Vater der
Jünglinge», der mit seiner Überwindung der Regelästhetik
zugunsten des ursprünglich Genialen und poetisch
Wunderbaren, seinem Lob Homers, Shakespeares und der
republikanischen Heldentugenden erst den neuen Auf-
schwung der deutschen Dichtung auslöste, hatte ihm seine
Freizügigkeiten noch nicht vergessen.
Anfang Mai übers Jahr klopft bei Lavater Johann Hein-
rich Wilhelm Tischbein (1751-1829)! an: sein zweijähriges
Rom-Stipendium war zu Ende gekommen, bevor er vor
lauter Staunen und Studieren ein eigenes Werk vollenden
konnte, und so musste er ganz gegen seinen Willen wieder
nach Norden ziehen. In Zürich hoffte er zunächst seinen
Beutel durch Portraitaufträge zu füllen und zugleich neue
Unterstützung zur Fortsetzung seines Studiums zu
erlangen. Wohl mit Empfehlungen des Schweizer Bild-
hauers Alexander Trippel, in dessen Atelier er in Rom nach
dem Modell gezeichnet hatte, versehen, wurde er mit
offenen Armen empfangen, und bereits am 17. Mai 1781
schrieb Lavater begeistert an Carl August nach Weimar:
«Der herrliche Tischbein ist izt bei uns; o, wenn er Sie und
Goethe mahlte!»? Offensichtlich hatte der junge Künstler
bereits überzeugende Proben seines Könnens abgelegt,
vermutlich gar schon Lavaters Bildnis gemalt, das — noch
stets von seinen Nachkommen verwahrt —jüngst bei dessen
Gedächtnisausstellung im Strauhof mit anderen Familien-
bildnissen wieder einmal öffentlich zu sehen war.? Über
dem straffen Oberkörper sitzt der Kopf im genauen Profil;
gut erfasst und exakt gezeichnet, erscheint das Bild in ganz
gedämpften Tönen und ohne aufdringliche malerische
Reize: doch gerade in dieser ungeschmückt objektivie-
renden Darstellungsweise trafen sich die Absichten von
Maler und Modell. Wie kam es, dass hier endlich ein
Meister den Vorstellungen des leidenschaftlichen Physio-
gnomikers entsprechen konnte?
Die Malerfamilie Tischbein* war damals im ganzen
deutschen Sprachbereich berühmt. Der Stammvater war
Klosterbäcker im hessischen Heina gewesen, einer Stiftung
für Arme und körperlich oder geistig Behinderte; sein
ältester Sohn, Johann Heinrich Wilhelms Vater, folgte ihm
in diesem Amt. Sein Bruder Valentin aber fiel einem hessi-
schen Rat auf; wie er als Knabe in der Klosterkirche zeich-
nete, und er vermittelte ihm eine Lehrstelle in der Frank-
furter Tapetenfabrik: hieher liess er seine vier jüngeren
Brüder nachkommen, und von hier verbreiteten sich die
fünf Tischbein der ersten Generation von Mainz bis nach
Lübeck. Der bedeutendste, Johann Heinrich, wurde Hof-
maler und Akademiedirektor in Kassel: er unterrichtete