Full text: Jahresbericht 1992 (1992)

den; nicht weniger gern hörten wohl seine Gastgeber das 
anschliessende Lob Holbeins und Dürers, dessen Bildnis 
des 82jährigen Wolgemut ihn in Nürnberg ausserordent- 
lich beeindruckt hatte und ihm beim Malen Bodmers eben 
zur rechten Zeit in Erinnerung gerufen wurde. «Überhaupt 
die drey werden für die natürlichsten Mahler gehalten»: 
keine Manier, nur Natur. 
Dass Tischbein hier seine Briefe abgedruckt fand und 
vom führenden deutschen Kritiker loben hörte, obwohl er 
nicht einmal orthographisch korrekt schreiben gelernt 
hatte, bestärkte ihn sicher in seinem Interesse an der 
Verbindung von Dichtung und Malerei: und dafür war er in 
Zürich ohne Zweifel am rechten Ort, denn hier stand dieser 
Problemkreis seit Bodmers und Breitingers Discourse der 
Mahlern (1721) im Mittelpunkt ästhetischer Überlegungen. 
Vor allem konnte er hier die berühmteste Doppelbegabung 
jener Zeit, Salomon Gessner, kennenlernen, dessen Dich- 
tungen er in seinen eigenen Idyllen bis ins Alter verpflichtet 
blieb.!® Eben liess sich dieser von Anton Graff, der für den 
Sommer 1781 aus Dresden zu ihm gekommen war, portrai- 
tieren — das Bildnis hängt im Kunsthaus — und die beiden 
Maler werden sich wohl kennengelernt haben. Bei diesem 
älteren, schon weit berühmten Kollegen konnte Tischbein 
gleichfalls die Abstimmung der malerischen Durchfüh- 
rung auf den Charakter des Dargestellten lernen, auch 
wenn er von dessen gleichzeitig entstandenen Portrait 
Bodmers gar nicht angetan war.! 
Jnd schliesslich kam noch Tischbeins Bruder Jakob 
angereist: Einer den anderen gemalt nannte Wilhelm das 
Doppelbildnis, in dessen Hintergrund die Portraits 
Bodmers, Lavaters und Gessners hängen.” Die Kompo- 
sition aber deutet auf Füsslis grosses Bild des Künstlers 
im Gespräch mit Bodmer vor der Büste Homers, das 
im gleichen Sommer aus London eingetroffen war;l6 
neben der souveränen Vernachlässigung des malerisch 
Handwerklichen muss Tischbein die Kühnheit der 
Konzeption überrascht haben, die in die konventionelle 
Aufgabe eine ungewohnte geistige Weite brachte und sicher 
bis zu seinem berühmten Bildnis Goethes als Wanderer 
auf dem Obelisken nachwirkte. Salomon Escher im 
Wollenhof, bei dem er das Gemälde Füsslis besichtigt 
hatte, wünschte anscheinend von ihm ein Portrait 
Voltaires; jedenfalls schenkten seine Nachkommen später 
beide Bilder ebenso wie Wüests Rhonegletscher der Künst- 
lergesellschaft. Vermutlich gehörte er mit Usteri und 
Lavater zu dem Freundeskreis, der bei Füssli den Schwur 
der drei Eidgenossen!? bestellt und ins Rathaus gestiftet hatte — 
wie die beiden Bildnisse ein Bekenntnis zur moralisch- 
republikanischen Erneuerung gemäss den Forderungen 
der Aufklärung und insbesondere Bodmers; ganz in 
seinem Geiste war die noch ungewöhnliche Wahl eines 
Themas aus dem Mittelalter und der vaterländischen 
Geschichte.!8 
Unter Bodmers Einfluss vertiefte sich Tischbeins Inter- 
esse an Homer; er schenkte ihm «ein Werk, welches er über 
die Vergleiche und Bilder des Homer geschrieben hatte»! 
und das ihm Anlass für seine eigenen Forschungen über die 
Darstellungen aus Ikas und Odysee in der antiken Kunst 
wurde; überdies dominieren in seinen späten Historienbil- 
dern Themen aus Homer. Zunächst aber beeindruckte ihn 
Bodmers Propagierung der mittelalterlichen deutschen 
Geschichte und Literatur nicht weniger. Da zeichnet er, wie 
sin alter Schweizer bei der Verteidigung einer Brücke von 
einem Feind, der in den Bach gestiegen, von unten ersto- 
chen wird, ein neuer Horatius Cocles2® — fast fühlt man 
sich an die groben Schlägereien erinnert, die der junge 
Füssli so leidenschaftlich skizzierte. Tischbein mag sie 
wohl gekannt haben, denn ein schönes Blatt, das ihn am 
Krankenlager des alten Vater Johann Caspar Füssli zeigt,2! 
deutet auf einen vertrauten Umgang mit der «Domus Füss- 
liana». Sodann wendet er sich Szenen aus Goethes Götz von 
Berlichingen zu, um sich den bewunderten Dichter geneigt 
zu machen und eine Pension von Weimar zu erhalten.2? 
Lavater und Merck in Darmstadt vermitteln, aber der 
Herzog ist knapp bei Kasse; immerhin bestellt er als kleines 
Gemälde Götz mit dem gefangenen Weislingen für Goethe zum 
Geburtstag. Neben dem Bemühen, die Psychologie der 
Figuren zu erfassen — auch hier die charakteristisch über- 
grossen Augen —, sucht Tischbein in Gewand und Interieur 
den Stil jener Zeit wiederzugeben; im Zürcher Zeughaus 
macht er Studien von Hellebarden und Morgensternen, 
und an der Wand soll gar Wilhelm Tells Armbrust und 
Schwert hängen. Im Detail gäbe es noch viel zu bean- 
standen, aber der wichtige erste Schritt in eine historisch 
antiquarische Exaktheit, in der das 19. Jahrhundert 
;ichwelgen sollte, war getan.
	        
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