Full text: Jahresbericht 1992 (1992)

Was ist inzwischen mit dem Gemälde selbst geschehen? 
1796 besuchte Louise von Anhalt-Dessau, nachdem sie in 
Rom Angelika Kauffmanns Amor und Psyche erworben hatte, 
Tischbein in Neapel und gewann, so ihr Reisebegleiter 
Matthisson in seinen 1814 in Zürich veröffentlichten 
Memoiren, das Brutus-Gemälde «lieb und unvergesslich».”* 
In der Reise durch Österreich und Italien von J. J. Gerning, 
der Tischbein etliche Seiten widmet, lesen wir in der 
Beschreibung seiner Werke: «Den Junius Brutus, der seine 
Söhne verurtheilt und ernsten Blickes dasitzt, hat er jüngst 
vollendet.»75 Gerning weilte in den neunziger Jahren in 
Neapel, und tatsächlich versichert mir Hermann Milden- 
berger, der beste Kenner von Tischbeins Werk, dem ich 
auch die beiden soeben zitierten Nachrichten und wert- 
volle Gespräche verdanke,’6 dass die malerische Faktur 
für eine Fertigstellung in Neapel spreche. Die Basis für die 
Beurteilung ist leider recht schmal, denn ausser dem 
Konradin und dem Orest sind aus der italienischen Zeit nur 
noch ein paar wenige Portraits vorhanden.” Als Tischbein 
1799 Neapel verliess, nahm er im wesentlichen nur die 
Kupferplatten zu seinem Wasen- und zu dem Homer-Werk mit, 
beides Folgen von Kopien nach Antiken;’® seine Samm- 
lung von Gemälden liess er sich später nach Hamburg 
schicken — anscheinend waren sie ebenso wie das Goethe- 
Bildnis vom Faktor seines Freundes, dem dänischen 
Konsul Heigelin, verwahrt worden. Von seinen eigenen 
Historienbildern verliert sich aber jede Spur. Den Brutus 
mit seinem revolutionären Thema hat sich vielleicht 
ein zum französischen Okkupationscorps gehörendes 
Mitglied der Familie Bravay de Schultz in Neapel angeeig- 
net;?? jedenfalls blieb das Gemälde für nahezu zwei Jahr- 
hunderte in deren Besitz verschwunden. 
In seinen Lebenserinnerungen erzählt Tischbein von 
den Diskussionen der Künstler in Rom, die mit Missver- 
gnügen sahen, wie ihre im Hinblick auf die ganze Mensch- 
heit erarbeiteten Schöpfungen in abgelegenen englischen 
Landhäusern, russischen Schlössern oder, im Falle des 
Konradin, im Arbeitszimmer des Herzogs von Gotha 
verschwanden und so weder für die Kunst noch für die 
Karriere ihrer Urheber wirksam werden konnten. Tisch- 
bein hat dies Schicksal besonders fatal getroffen, denn sein 
Brutus muss nach Anspruch, historischer Bedeutung und 
künstlerischem Gelingen als sein Hauptwerk bezeichnet 
werden, dem weder der Konrdin noch der Orest in Arolsen — 
von seiner späteren oldenburgischen Produktion zu 
schweigen —ebenbürtig sind. So erlebt nun zusammen mit 
dem Brutus der zum «Goethe-Tischbein» reduzierte Meister 
in Zürich, wo seine künstlerischen Ideen massgeblich 
geprägt wurden, seine Auferstehung. Und wenn der gedul- 
dige Leser durch diese weitläufigen Zusammenhänge bis 
hieher gefolgt ist, so mag er spüren, dass auch für dieses 
Gemälde gilt, was Tischbein einst an einem Grösseren 
gelobt hatte: «Raphaels Werke gefallen in dem ersten 
Anblick nicht. Je mehr man sie aber betrachtet, je mehr 
gefallen sie.»&1 
Christian Klemm
	        
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