Was ist inzwischen mit dem Gemälde selbst geschehen?
1796 besuchte Louise von Anhalt-Dessau, nachdem sie in
Rom Angelika Kauffmanns Amor und Psyche erworben hatte,
Tischbein in Neapel und gewann, so ihr Reisebegleiter
Matthisson in seinen 1814 in Zürich veröffentlichten
Memoiren, das Brutus-Gemälde «lieb und unvergesslich».”*
In der Reise durch Österreich und Italien von J. J. Gerning,
der Tischbein etliche Seiten widmet, lesen wir in der
Beschreibung seiner Werke: «Den Junius Brutus, der seine
Söhne verurtheilt und ernsten Blickes dasitzt, hat er jüngst
vollendet.»75 Gerning weilte in den neunziger Jahren in
Neapel, und tatsächlich versichert mir Hermann Milden-
berger, der beste Kenner von Tischbeins Werk, dem ich
auch die beiden soeben zitierten Nachrichten und wert-
volle Gespräche verdanke,’6 dass die malerische Faktur
für eine Fertigstellung in Neapel spreche. Die Basis für die
Beurteilung ist leider recht schmal, denn ausser dem
Konradin und dem Orest sind aus der italienischen Zeit nur
noch ein paar wenige Portraits vorhanden.” Als Tischbein
1799 Neapel verliess, nahm er im wesentlichen nur die
Kupferplatten zu seinem Wasen- und zu dem Homer-Werk mit,
beides Folgen von Kopien nach Antiken;’® seine Samm-
lung von Gemälden liess er sich später nach Hamburg
schicken — anscheinend waren sie ebenso wie das Goethe-
Bildnis vom Faktor seines Freundes, dem dänischen
Konsul Heigelin, verwahrt worden. Von seinen eigenen
Historienbildern verliert sich aber jede Spur. Den Brutus
mit seinem revolutionären Thema hat sich vielleicht
ein zum französischen Okkupationscorps gehörendes
Mitglied der Familie Bravay de Schultz in Neapel angeeig-
net;?? jedenfalls blieb das Gemälde für nahezu zwei Jahr-
hunderte in deren Besitz verschwunden.
In seinen Lebenserinnerungen erzählt Tischbein von
den Diskussionen der Künstler in Rom, die mit Missver-
gnügen sahen, wie ihre im Hinblick auf die ganze Mensch-
heit erarbeiteten Schöpfungen in abgelegenen englischen
Landhäusern, russischen Schlössern oder, im Falle des
Konradin, im Arbeitszimmer des Herzogs von Gotha
verschwanden und so weder für die Kunst noch für die
Karriere ihrer Urheber wirksam werden konnten. Tisch-
bein hat dies Schicksal besonders fatal getroffen, denn sein
Brutus muss nach Anspruch, historischer Bedeutung und
künstlerischem Gelingen als sein Hauptwerk bezeichnet
werden, dem weder der Konrdin noch der Orest in Arolsen —
von seiner späteren oldenburgischen Produktion zu
schweigen —ebenbürtig sind. So erlebt nun zusammen mit
dem Brutus der zum «Goethe-Tischbein» reduzierte Meister
in Zürich, wo seine künstlerischen Ideen massgeblich
geprägt wurden, seine Auferstehung. Und wenn der gedul-
dige Leser durch diese weitläufigen Zusammenhänge bis
hieher gefolgt ist, so mag er spüren, dass auch für dieses
Gemälde gilt, was Tischbein einst an einem Grösseren
gelobt hatte: «Raphaels Werke gefallen in dem ersten
Anblick nicht. Je mehr man sie aber betrachtet, je mehr
gefallen sie.»&1
Christian Klemm