EINE LANDSCHAFT IM FRÜHLICHT
AUS HODLERS TODESJAHR
Am Beginn von Hodlers künstlerischem Werk steht «Der
Studierende» im Kunsthaus Zürich, an seinem Ende eine
Serie von etwa siebzehn Landschaftsgemälden, die der
Todkranke von seinem Zimmer mit dem Blick über den See
zum Montblanc malte. Der 21jährige schwört in seinem
Gesellen- oder Meisterstück auf die Gesetze der Kunst, in
seiner Linken hält er das Winkelmass mit Waagrechter und
Senkrechter. Den Hauptrichtungen weist Hodler eine
zentrale Bedeutung zu, die seit dem Übergang vom
Realismus zum Symbolismus in den achtziger Jahren
zunehmend inhaltlich aufgeladen werden. Die Vertikale
wird dem Willen, der Lebenskraft zugeordnet, die Hori-
zontale dem Tod, dem Eingehen des Individuums in das
Universale, in die alles umfassende, von der Kunst zu offen-
barende Einheit. Das erste Prinzip, das der «Studierende»
bereits antönt, findet seinen extremen Ausdruck in der
Vervielfältigung der die Arme zum Schwur hebenden
Männer der Hannoveraner «Einmütigkeit», das andere in
dem Gemälde der toten Valentine Gode-Darel, über der
drei waagrechte Linien schweben.
Zwei der Gesetze, auf die sich der Kunstjünger als
Schüler Barthelemy Menns 1874 verpflichtete, lauten:
«Der Maler muss sich daran gewöhnen, die Natur als Fläche
zu sehen», und: «Der Umriss bildet an sich ein Element des
Ausdrucks und der Schönheit. Er bildet die Grundlage aller
weiteren Arbeit.» Während die Betonung der Bildfläche in
zunehmend reiner Entfaltung Grundlage seiner modernen
Kunst blieb, barg das andere, vom Klassizismus zum
Symbolismus führende Gebot einen Antagonismus, der
die Entfaltung der Farbigkeit hemmte. Erst durch die
Erschütterung durch das malende Miterleben des Sterbens
seiner Geliebten gelangte er zu einer Befreiung der Farbe
aus den linearen Parzellen und damit zur Einheit der
beiden Gestaltungsprinzipien: Der «Sonnenuntergang am
Genfersee» (Kunsthaus), auf drei Ölskizzen aus dem
Krankenzimmer beruhend, darf als das entscheidende
Werk des Durchbruchs verstanden werden; als kosmische
Apotheose feiert es in seinen liegenden Farblinien das
Aufgehen der Toten ins All.
Aus den beiden Jahren, die Valentines Tod von den
letzten Genfersee-Bildern trennen, hängen im Kunsthaus
zwei Landschaften und das grosse für die Treppenhalle
gemalte Wandbild «Blick in die Unendlichkeit», eine letzte
explizite Formulierung der Kommunikation des Indivi-
duums mit dem All. Trotz der Mächtigkeit der fünf
Gestalten bleibt vieles in der Schwebe. Weniger durch ihr
Stehen auf der sich zum Hintergrund wölbenden Fläche
werden sie gehalten als durch den Rhythmus ihrer blauen
Formen und der sich gerade nicht berührenden Arme.
Scheint sich der Reigen zögernd zum Schreiten nach links
zu wenden, so gleitet der natürliche Richtungsimpuls des
Auges doch durch die Wellen der Glieder nach rechts
zurück. Ihre Blicke messen die ganze Weite des Horizontes
hinter dem Betrachter aus, eine Weite, deren Bedeutung
sich durch die Bewegungsanmutungen der Figuren vom
Räumlichen zum Zeitlichen verschiebt, von dem erwar-
tungsvollen Tasten der Vordersten bis zur sehnend im
Rückblick Verharrenden. Die Erfahrungen mit Symme-
trien und Reihungen, mit Frontal- und Profilstellungen,
aus deren Spannungen die früheren symbolistischen
Kompositionen lebten, scheinen sich aus ihrem festen
Aggregatzustand verflüssigt zu haben; die Sicherheit des
selbstherrlichen Behauptens ist einem fragenden Ahnen
zewichen.
Auch den beiden späten Landschaften eignet dieses
Schwebende. Die «Landschaft bei Caux mit aufsteigenden
Wolken» bringt den zentralen Berggipfel als Hügelchen an
den unteren Rand, über dem sich der See bis zum unge-
brochen in die Bildmitte gelegten Horizont hebt. In der
oberen Hälfte wölbt sich eine mit dem Oliv des Vorder-
grundes harmonierende gelbe Aura zwischen dem Türkis
des Wassers und dem Blau des Firmaments. Hinter dem
Hügel aber steigen Wölklein auf, teilen sich nach rechts
and links, wenden sich oben in die Mitte und verlieren
sich im Dunst. Es ist, als ob die ornamentalen Formen
des Jugenstils, die auf den Rahmen bezogenen Wolken-
fügungen, die gewaltig ins Bild ragenden einzelnen Gipfel