Full text: Jahresbericht 1992 (1992)

EINE LANDSCHAFT IM FRÜHLICHT 
AUS HODLERS TODESJAHR 
Am Beginn von Hodlers künstlerischem Werk steht «Der 
Studierende» im Kunsthaus Zürich, an seinem Ende eine 
Serie von etwa siebzehn Landschaftsgemälden, die der 
Todkranke von seinem Zimmer mit dem Blick über den See 
zum Montblanc malte. Der 21jährige schwört in seinem 
Gesellen- oder Meisterstück auf die Gesetze der Kunst, in 
seiner Linken hält er das Winkelmass mit Waagrechter und 
Senkrechter. Den Hauptrichtungen weist Hodler eine 
zentrale Bedeutung zu, die seit dem Übergang vom 
Realismus zum Symbolismus in den achtziger Jahren 
zunehmend inhaltlich aufgeladen werden. Die Vertikale 
wird dem Willen, der Lebenskraft zugeordnet, die Hori- 
zontale dem Tod, dem Eingehen des Individuums in das 
Universale, in die alles umfassende, von der Kunst zu offen- 
barende Einheit. Das erste Prinzip, das der «Studierende» 
bereits antönt, findet seinen extremen Ausdruck in der 
Vervielfältigung der die Arme zum Schwur hebenden 
Männer der Hannoveraner «Einmütigkeit», das andere in 
dem Gemälde der toten Valentine Gode-Darel, über der 
drei waagrechte Linien schweben. 
Zwei der Gesetze, auf die sich der Kunstjünger als 
Schüler Barthelemy Menns 1874 verpflichtete, lauten: 
«Der Maler muss sich daran gewöhnen, die Natur als Fläche 
zu sehen», und: «Der Umriss bildet an sich ein Element des 
Ausdrucks und der Schönheit. Er bildet die Grundlage aller 
weiteren Arbeit.» Während die Betonung der Bildfläche in 
zunehmend reiner Entfaltung Grundlage seiner modernen 
Kunst blieb, barg das andere, vom Klassizismus zum 
Symbolismus führende Gebot einen Antagonismus, der 
die Entfaltung der Farbigkeit hemmte. Erst durch die 
Erschütterung durch das malende Miterleben des Sterbens 
seiner Geliebten gelangte er zu einer Befreiung der Farbe 
aus den linearen Parzellen und damit zur Einheit der 
beiden Gestaltungsprinzipien: Der «Sonnenuntergang am 
Genfersee» (Kunsthaus), auf drei Ölskizzen aus dem 
Krankenzimmer beruhend, darf als das entscheidende 
Werk des Durchbruchs verstanden werden; als kosmische 
Apotheose feiert es in seinen liegenden Farblinien das 
Aufgehen der Toten ins All. 
Aus den beiden Jahren, die Valentines Tod von den 
letzten Genfersee-Bildern trennen, hängen im Kunsthaus 
zwei Landschaften und das grosse für die Treppenhalle 
gemalte Wandbild «Blick in die Unendlichkeit», eine letzte 
explizite Formulierung der Kommunikation des Indivi- 
duums mit dem All. Trotz der Mächtigkeit der fünf 
Gestalten bleibt vieles in der Schwebe. Weniger durch ihr 
Stehen auf der sich zum Hintergrund wölbenden Fläche 
werden sie gehalten als durch den Rhythmus ihrer blauen 
Formen und der sich gerade nicht berührenden Arme. 
Scheint sich der Reigen zögernd zum Schreiten nach links 
zu wenden, so gleitet der natürliche Richtungsimpuls des 
Auges doch durch die Wellen der Glieder nach rechts 
zurück. Ihre Blicke messen die ganze Weite des Horizontes 
hinter dem Betrachter aus, eine Weite, deren Bedeutung 
sich durch die Bewegungsanmutungen der Figuren vom 
Räumlichen zum Zeitlichen verschiebt, von dem erwar- 
tungsvollen Tasten der Vordersten bis zur sehnend im 
Rückblick Verharrenden. Die Erfahrungen mit Symme- 
trien und Reihungen, mit Frontal- und Profilstellungen, 
aus deren Spannungen die früheren symbolistischen 
Kompositionen lebten, scheinen sich aus ihrem festen 
Aggregatzustand verflüssigt zu haben; die Sicherheit des 
selbstherrlichen Behauptens ist einem fragenden Ahnen 
zewichen. 
Auch den beiden späten Landschaften eignet dieses 
Schwebende. Die «Landschaft bei Caux mit aufsteigenden 
Wolken» bringt den zentralen Berggipfel als Hügelchen an 
den unteren Rand, über dem sich der See bis zum unge- 
brochen in die Bildmitte gelegten Horizont hebt. In der 
oberen Hälfte wölbt sich eine mit dem Oliv des Vorder- 
grundes harmonierende gelbe Aura zwischen dem Türkis 
des Wassers und dem Blau des Firmaments. Hinter dem 
Hügel aber steigen Wölklein auf, teilen sich nach rechts 
and links, wenden sich oben in die Mitte und verlieren 
sich im Dunst. Es ist, als ob die ornamentalen Formen 
des Jugenstils, die auf den Rahmen bezogenen Wolken- 
fügungen, die gewaltig ins Bild ragenden einzelnen Gipfel
	        
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