Full text: Jahresbericht 1992 (1992)

sich in dieser Dynamisierung auflösen und verabschieden 
würden. In den «Berggipfel am Morgen» steigt nun Hodler 
über diese hinauf; der Blick gleitet durch den luftig und 
leicht gemalten weisslichen Nebel über die bläulichen 
Kämme, die sich in die Tiefe staffeln und doch primär in 
der Fläche vibrieren. Einmal malt er jetzt auch das Nebel- 
meer, das sich hoch über dem Genfersee kräuselt; die 
Savoyerberge tauchen nur als niedriger Hügelzug aus ihm 
empor, während ein unbestimmt gelblich-grauer Himmel 
die beiden oberen Bilddrittel füllt. 
Nachdem Hodler im Sommer mit der umfassenden 
Retrospektive im Kunsthaus Zürich nochmals einen 
grossen Triumph feiern konnte, drohte die Lungen- 
schwäche, der schon vor Jahrzehnten seine Eltern und 
Geschwister zum Opfer gefallen waren und die nun auch 
nach seinem Sohne griff, seinem Leben ein Ende zu setzen. 
Um Weihnachten und bis in den Januar fühlte er sich 
unmittelbar vom Tode bedroht; die Erholung erfolgt 
zögernd; im Sessel verbringt er, von Atemnot und 
Alpdrücken gepeinigt, die schlaflosen Nächte. An die 
Wohnung gefesselt, malt er von hier den Blick über den See 
zu dem in weiter Ferne über die Hügelzüge am Ufer 
ragenden Montblanc und zur näheren Pyramide des Möle, 
sobald sich das erste Licht des Tages am winterlichen 
Himmel zeigt. 
Das Motiv ist denkbar einfach und gerade dadurch von 
elementarer Ausdruckskraft. Denn wie schon Füssli und 
noch Barnett Newman gemäss der Theorie des Erhabenen 
lehrten, wird die höchste ästhetische Wirkungsmacht dort 
erreicht, wo das auf einen Blick zu erfassende Kunstwerk die 
Seele überwältigt. Über dem knappen Vordergrundstreifen 
schwebt zwischen dem spiegelnden See und dem leuch- 
tenden Firmament die in blaue Schatten gehüllte Gebirgs- 
kette; kaum dass sich noch einmal eine Erinnerung an die 
rhythmische Folge von Schwänen oder ornamentalen 
Wolkenkringel findet. Schon lange und immer wieder hat 
man das Anthropomorphe von Hodlers Bergdarstellungen 
bemerkt: ragten einst die trotzigen Köpfe des Mönchs oder 
des Breithorns in den Himmel, so ruht nun längs hinge- 
streckt der Hügelzug. «Selbst die Berge werden niedriger 
und durch die Jahrhunderte abgetragen, bis sie flach sind 
wie die Oberfläche des Wassers», notiert Hodler in sein 
Carnet: das körperhaft Festeste wird dem Flüssigen ange- 
nähert, das Gleichnis des Ewigen in seine Zeitlichkeit 
gerückt. Und je höher und spitzer sich diese Berge 
aufwerfen, um so kleiner und unerheblicher wirken sie aus 
der Distanz. So herrscht das horizontale Prinzip wie im 
«Sonnenuntergang», der 1915 nach Valentines Tod 
entstand, unumschränkt, nur konkretisiert es sich hier an 
dem Hauptgegenstand und wird in den unterschiedlich 
reflektierenden Streifen der Seeoberfläche und den 
lagernden Schichten der Atmosphäre varliert. 
Erst wenn man die ganze Folge dieser Bilder überblickt, 
entwickelt man ein Sensorium für den koloristischen Erfin- 
dungsreichtum und die Präzision, mit welcher Hodler das 
einzige senkrechte Element — die seitlichen Bildränder — 
einsetzt. Denn in Ausschnitt und Bildformat gründen sich 
die gestalthaften Qualitäten des Motivs. Für ein halbes 
Dutzend dieser Gemälde wählt er ein schon zuvor verein- 
zelt erprobtes extremes Querformat mit den Proportionen 
| :2; in ihm bestimmt er den Ausschnitt entweder so, dass 
der Montblanc in der Mitte vom Möle und dem Kleinen 
Saleve flankiert wird oder dass sich in einem freien 
Rhythmus die Erhebungen bis zu diesem steigern. In den 
wenigen Skizzen wird dies Suchen nach einer verborgenen 
Ordnung und zugleich nach den seitlichen Schnitt 
punkten, die die Bildgestalt schliessen und doch das Pan- 
orama ins Unendliche entgrenzen, nachvollziehbar. Denn 
dieses wirkt nun mehr in die Breite und gleicht so den Zug 
des Blickes in die Tiefe aus. Durch die Staffelung und noch 
mehr durch die malerische Behandlung wird dieser aller- 
dings nicht blockiert wie bei den frontal dem Betrachter 
entgegengestellten Gebirgsmassiven; vielmehr scheint es 
so, dass die Hügelzüge, die bei der Aussicht von Caux in 
weiter Tiefe die Schwelle zwischen See und Himmel 
bildeten, nun nahe gerückt wären. Wie nahe, bestimmt der 
Maler durch die Lage des Horizontes und die Grösse der 
Berge. 
[n einem Bild von 1916 oder 1917, in dem die unter der 
Mitte liegende Wasserlinie schon die gleichen Hügel und 
Berge, dazu zwei ganz asymmetrisch schwebende bläuliche 
Wolken im grauen See spiegelt, sind die Formationen in der 
Föhnstimmung zwar überdeutlich klar, aber durch ihren 
geringen Anteil an der Bildhöhe ins Objektive distanziert 
zu sehen. Jetzt aber rücken sie in die Nähe und wirken mehr 
oder weniger bedrohlich, entsprechend dem Grad ihrer
	        
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