sich in dieser Dynamisierung auflösen und verabschieden
würden. In den «Berggipfel am Morgen» steigt nun Hodler
über diese hinauf; der Blick gleitet durch den luftig und
leicht gemalten weisslichen Nebel über die bläulichen
Kämme, die sich in die Tiefe staffeln und doch primär in
der Fläche vibrieren. Einmal malt er jetzt auch das Nebel-
meer, das sich hoch über dem Genfersee kräuselt; die
Savoyerberge tauchen nur als niedriger Hügelzug aus ihm
empor, während ein unbestimmt gelblich-grauer Himmel
die beiden oberen Bilddrittel füllt.
Nachdem Hodler im Sommer mit der umfassenden
Retrospektive im Kunsthaus Zürich nochmals einen
grossen Triumph feiern konnte, drohte die Lungen-
schwäche, der schon vor Jahrzehnten seine Eltern und
Geschwister zum Opfer gefallen waren und die nun auch
nach seinem Sohne griff, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Um Weihnachten und bis in den Januar fühlte er sich
unmittelbar vom Tode bedroht; die Erholung erfolgt
zögernd; im Sessel verbringt er, von Atemnot und
Alpdrücken gepeinigt, die schlaflosen Nächte. An die
Wohnung gefesselt, malt er von hier den Blick über den See
zu dem in weiter Ferne über die Hügelzüge am Ufer
ragenden Montblanc und zur näheren Pyramide des Möle,
sobald sich das erste Licht des Tages am winterlichen
Himmel zeigt.
Das Motiv ist denkbar einfach und gerade dadurch von
elementarer Ausdruckskraft. Denn wie schon Füssli und
noch Barnett Newman gemäss der Theorie des Erhabenen
lehrten, wird die höchste ästhetische Wirkungsmacht dort
erreicht, wo das auf einen Blick zu erfassende Kunstwerk die
Seele überwältigt. Über dem knappen Vordergrundstreifen
schwebt zwischen dem spiegelnden See und dem leuch-
tenden Firmament die in blaue Schatten gehüllte Gebirgs-
kette; kaum dass sich noch einmal eine Erinnerung an die
rhythmische Folge von Schwänen oder ornamentalen
Wolkenkringel findet. Schon lange und immer wieder hat
man das Anthropomorphe von Hodlers Bergdarstellungen
bemerkt: ragten einst die trotzigen Köpfe des Mönchs oder
des Breithorns in den Himmel, so ruht nun längs hinge-
streckt der Hügelzug. «Selbst die Berge werden niedriger
und durch die Jahrhunderte abgetragen, bis sie flach sind
wie die Oberfläche des Wassers», notiert Hodler in sein
Carnet: das körperhaft Festeste wird dem Flüssigen ange-
nähert, das Gleichnis des Ewigen in seine Zeitlichkeit
gerückt. Und je höher und spitzer sich diese Berge
aufwerfen, um so kleiner und unerheblicher wirken sie aus
der Distanz. So herrscht das horizontale Prinzip wie im
«Sonnenuntergang», der 1915 nach Valentines Tod
entstand, unumschränkt, nur konkretisiert es sich hier an
dem Hauptgegenstand und wird in den unterschiedlich
reflektierenden Streifen der Seeoberfläche und den
lagernden Schichten der Atmosphäre varliert.
Erst wenn man die ganze Folge dieser Bilder überblickt,
entwickelt man ein Sensorium für den koloristischen Erfin-
dungsreichtum und die Präzision, mit welcher Hodler das
einzige senkrechte Element — die seitlichen Bildränder —
einsetzt. Denn in Ausschnitt und Bildformat gründen sich
die gestalthaften Qualitäten des Motivs. Für ein halbes
Dutzend dieser Gemälde wählt er ein schon zuvor verein-
zelt erprobtes extremes Querformat mit den Proportionen
| :2; in ihm bestimmt er den Ausschnitt entweder so, dass
der Montblanc in der Mitte vom Möle und dem Kleinen
Saleve flankiert wird oder dass sich in einem freien
Rhythmus die Erhebungen bis zu diesem steigern. In den
wenigen Skizzen wird dies Suchen nach einer verborgenen
Ordnung und zugleich nach den seitlichen Schnitt
punkten, die die Bildgestalt schliessen und doch das Pan-
orama ins Unendliche entgrenzen, nachvollziehbar. Denn
dieses wirkt nun mehr in die Breite und gleicht so den Zug
des Blickes in die Tiefe aus. Durch die Staffelung und noch
mehr durch die malerische Behandlung wird dieser aller-
dings nicht blockiert wie bei den frontal dem Betrachter
entgegengestellten Gebirgsmassiven; vielmehr scheint es
so, dass die Hügelzüge, die bei der Aussicht von Caux in
weiter Tiefe die Schwelle zwischen See und Himmel
bildeten, nun nahe gerückt wären. Wie nahe, bestimmt der
Maler durch die Lage des Horizontes und die Grösse der
Berge.
[n einem Bild von 1916 oder 1917, in dem die unter der
Mitte liegende Wasserlinie schon die gleichen Hügel und
Berge, dazu zwei ganz asymmetrisch schwebende bläuliche
Wolken im grauen See spiegelt, sind die Formationen in der
Föhnstimmung zwar überdeutlich klar, aber durch ihren
geringen Anteil an der Bildhöhe ins Objektive distanziert
zu sehen. Jetzt aber rücken sie in die Nähe und wirken mehr
oder weniger bedrohlich, entsprechend dem Grad ihrer