Full text: Jahresbericht 1992 (1992)

Unüberwindbarkeit; diese aber wird, abgesehen von der 
Höhe der Berge, durch die Aufhebung ihrer räumlichen 
Staffelung in liebliche Hügel am Ufer, sanft ansteigende 
Rücken und ferne Alpenketten durch die dunkelblaue 
Verschattung gesteigert. Ihre Tatsächlichkeit wird auf ihren 
Umriss reduziert, in diesem aber durch das konturierende 
Gegenlicht mit grosser Energie festgehalten; die Entdiffe- 
renzierung der Binnenstruktur setzt die Masse zu einer 
malerisch wirkungsmächtigen Vereinheitlichung frei. Die 
spezifische ästhetische Aussage der Montblanc-Serie 
erreicht Hodler denn auch nur in den Bildern mit Früh- 
licht, während die paar Ansichten in der Nachmittags- 
sonne mit ihrer Schilderung der geologischen Einzelheiten 
einen ganz anderen Charakter haben; wenigstens das strah- 
lende Bild der Sammlung Schmidheiny und das allerletzte, 
unvollendet auf der Staffelei hinterlassene Gemälde 
zeugen von der Verbesserung des Gesundheitszustandes 
von Mitte März bis zu dem am Pfingstsonntag erfolgten, 
nicht akut erwarteten Erlöschen. 
Betrachtet man nun den «Genfersee mit Montblanc im 
Frühlicht», den der Holenia-Trust im Andenken an Joseph 
H. Hirshhorn im Berichtsjahr dem Kunsthaus schenkte, 
sieht man die Vereinheitlichung des Motivs am weitesten 
getrieben; nur das in opakes Orange getauchte, zu den 
beiden grössten Fassungen zählende Gemälde verzichtet 
ähnlich radikal auf Wolkenbänder, geologische Einzel- 
heiten und Zerlegungen der Seeoberfläche in verschieden 
spiegelnde Zonen. Im Gegensatz zu diesem und zu allen 
anderen Versionen bedient sich Hodler hier einer luftig 
zarten Malweise, die ın fast pastellartigen Schraffuren 
mehrschichtig die ganze Bildoberfläche strukturiert. 
Sicher wird damit quasi impressionistisch der im Morgen- 
grauen über dem See aufsteigende Dunst evoziert, doch das 
hinter dem Möle aufleuchtende Morgenrot und Hodlers 
zugleich prinzipiell flache und expressiv gespannte Pinsel- 
striche lassen andere Qualitäten dominieren: das Bild ist 
von einer farbigen Leuchtkraft, welche selbst die Intensität 
des «Silvaplanersees» übertrifft, und wirkt durch das 
vibrierende Aufbrechen der Farbflächen in besonderer, 
quasi Segantini modernisierender Weise als «paysage 
flamboyant», um Hodlers Ausdruck zu verwenden. Dieser 
ätherische Charakter wird durch den gleichfalls unge- 
wöhnlichen Farbklang von Rosa und Blau, zu dem Gelb 
nur als letzte Steigerung tritt, intensiviert; die anderen 
Fassungen sind aus Gelb-Blau-Kontrasten entwickelt und 
öfters gegen Orange oder Grün abgestuft. Zusammen mit 
der grossen, stillen Schlichtheit des Motivs, dem bedroh- 
lich nah über dem See schwebenden Gebirge und der 
verhaltenen Zweipoligkeit seiner beiden Gipfel um eine 
'eere Mitte, wie es auch Caspar David Friedrich liebte, 
ergibt sich eine entrückende, romantisch-meditative 
Ausstrahlung, der sich entsprechend disponierte Gemüter 
schwer entziehen können —wie denn auch bereits verschie- 
dene süchtige Besucher regelmässig vor dem Gemälde 
anzutreffen sind. 
Nun weist der «Genfersee mit Montblanc im Frühlicht» 
noch eine andere Besonderheit auf, die eher an die Land- 
schaftsdramatisierungen Turners und an die erwähnten 
Tendenzen des alten Hodlers zur Dynamisierung und 
Verzeitlichung erinnert. Indem er das Aufscheinen der 
Sonne hinter dem Gebirge nach links verschiebt, bleibt die 
rechte Bildhälfte noch von nächtlich blauem Dunst erfüllt: 
wir sehen zwei Phasen der Überwindung des Dunkels 
durch das Frühlicht. Und wie beim «Blick in die Unend- 
lichkeit» geht der zeitliche Verlauf entgegen dem 
Gewohnten von rechts nach links; für das normale Rich- 
tungsempfinden führt diese Morgenröte zurück in die 
Finsternis. Die Steigerung des Gebirges zum Montblanc 
erhöht diese komplexe Spannung; seitenverkehrt be- 
trachtet, dominiert die lichte Hälfte unumschränkt und 
lässt das Bild eindeutig, aber auch banaler erscheinen. In 
metaphorischem Leichtsinn könnte man den Strukturver- 
gleich noch auf einen anderen Punkt ausdehnen: den Blick 
der Gestalten aus dem Bild in die Zeit des Betrachters. 
Denn durch die Aktivierung des Ereignishaften des Son- 
nenaufganges erleben wir das Entgegenstrahlen des Lichtes 
als eine überwältigende Antwort auf unser Schauen. Und 
so teilt dieses Gemälde noch die verzaubernde Kraft jener 
Landschaften Claude Lorrains, in denen das über dem 
Horizont stehende Gestirn auch uns in seinem Leuchten 
umfasst. 
Christian Klemm
	        
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