Unüberwindbarkeit; diese aber wird, abgesehen von der
Höhe der Berge, durch die Aufhebung ihrer räumlichen
Staffelung in liebliche Hügel am Ufer, sanft ansteigende
Rücken und ferne Alpenketten durch die dunkelblaue
Verschattung gesteigert. Ihre Tatsächlichkeit wird auf ihren
Umriss reduziert, in diesem aber durch das konturierende
Gegenlicht mit grosser Energie festgehalten; die Entdiffe-
renzierung der Binnenstruktur setzt die Masse zu einer
malerisch wirkungsmächtigen Vereinheitlichung frei. Die
spezifische ästhetische Aussage der Montblanc-Serie
erreicht Hodler denn auch nur in den Bildern mit Früh-
licht, während die paar Ansichten in der Nachmittags-
sonne mit ihrer Schilderung der geologischen Einzelheiten
einen ganz anderen Charakter haben; wenigstens das strah-
lende Bild der Sammlung Schmidheiny und das allerletzte,
unvollendet auf der Staffelei hinterlassene Gemälde
zeugen von der Verbesserung des Gesundheitszustandes
von Mitte März bis zu dem am Pfingstsonntag erfolgten,
nicht akut erwarteten Erlöschen.
Betrachtet man nun den «Genfersee mit Montblanc im
Frühlicht», den der Holenia-Trust im Andenken an Joseph
H. Hirshhorn im Berichtsjahr dem Kunsthaus schenkte,
sieht man die Vereinheitlichung des Motivs am weitesten
getrieben; nur das in opakes Orange getauchte, zu den
beiden grössten Fassungen zählende Gemälde verzichtet
ähnlich radikal auf Wolkenbänder, geologische Einzel-
heiten und Zerlegungen der Seeoberfläche in verschieden
spiegelnde Zonen. Im Gegensatz zu diesem und zu allen
anderen Versionen bedient sich Hodler hier einer luftig
zarten Malweise, die ın fast pastellartigen Schraffuren
mehrschichtig die ganze Bildoberfläche strukturiert.
Sicher wird damit quasi impressionistisch der im Morgen-
grauen über dem See aufsteigende Dunst evoziert, doch das
hinter dem Möle aufleuchtende Morgenrot und Hodlers
zugleich prinzipiell flache und expressiv gespannte Pinsel-
striche lassen andere Qualitäten dominieren: das Bild ist
von einer farbigen Leuchtkraft, welche selbst die Intensität
des «Silvaplanersees» übertrifft, und wirkt durch das
vibrierende Aufbrechen der Farbflächen in besonderer,
quasi Segantini modernisierender Weise als «paysage
flamboyant», um Hodlers Ausdruck zu verwenden. Dieser
ätherische Charakter wird durch den gleichfalls unge-
wöhnlichen Farbklang von Rosa und Blau, zu dem Gelb
nur als letzte Steigerung tritt, intensiviert; die anderen
Fassungen sind aus Gelb-Blau-Kontrasten entwickelt und
öfters gegen Orange oder Grün abgestuft. Zusammen mit
der grossen, stillen Schlichtheit des Motivs, dem bedroh-
lich nah über dem See schwebenden Gebirge und der
verhaltenen Zweipoligkeit seiner beiden Gipfel um eine
'eere Mitte, wie es auch Caspar David Friedrich liebte,
ergibt sich eine entrückende, romantisch-meditative
Ausstrahlung, der sich entsprechend disponierte Gemüter
schwer entziehen können —wie denn auch bereits verschie-
dene süchtige Besucher regelmässig vor dem Gemälde
anzutreffen sind.
Nun weist der «Genfersee mit Montblanc im Frühlicht»
noch eine andere Besonderheit auf, die eher an die Land-
schaftsdramatisierungen Turners und an die erwähnten
Tendenzen des alten Hodlers zur Dynamisierung und
Verzeitlichung erinnert. Indem er das Aufscheinen der
Sonne hinter dem Gebirge nach links verschiebt, bleibt die
rechte Bildhälfte noch von nächtlich blauem Dunst erfüllt:
wir sehen zwei Phasen der Überwindung des Dunkels
durch das Frühlicht. Und wie beim «Blick in die Unend-
lichkeit» geht der zeitliche Verlauf entgegen dem
Gewohnten von rechts nach links; für das normale Rich-
tungsempfinden führt diese Morgenröte zurück in die
Finsternis. Die Steigerung des Gebirges zum Montblanc
erhöht diese komplexe Spannung; seitenverkehrt be-
trachtet, dominiert die lichte Hälfte unumschränkt und
lässt das Bild eindeutig, aber auch banaler erscheinen. In
metaphorischem Leichtsinn könnte man den Strukturver-
gleich noch auf einen anderen Punkt ausdehnen: den Blick
der Gestalten aus dem Bild in die Zeit des Betrachters.
Denn durch die Aktivierung des Ereignishaften des Son-
nenaufganges erleben wir das Entgegenstrahlen des Lichtes
als eine überwältigende Antwort auf unser Schauen. Und
so teilt dieses Gemälde noch die verzaubernde Kraft jener
Landschaften Claude Lorrains, in denen das über dem
Horizont stehende Gestirn auch uns in seinem Leuchten
umfasst.
Christian Klemm