Full text: Jahresbericht 1992 (1992)

Quaderform wiederherstellende Gestein in stärkerem 
Masse als die gesättigten antiken Wannen. Das Oliven- 
öl, Konzentrat der neben dem Weinbau weitest verbreiteten 
Nutz-Vegetation rund um das Mittelmeer, wird somit 
zum Sinnbild der lebensspendenden Kraft, die alles, auch 
die verkrustetsten Strukturen durchdringt, das anarchische 
Prinzip, das sich nicht formen, d. h. bändigen lässt und 
wohl auch das weibliche Prinzip, das Leben und nicht 
männlich steriles Ordnungs-, hier auch Hierarchiedenken 
spiegelt. Spiegelt im wörtlichen Sinn, denn in der schim- 
mernden Ölschicht über dem locker behauenen Stein mag 
sich der Betrachter Narziss gleich selbst erkennen: «Gnoti 
sauton» — erkenne dich selbst in deiner untrennbaren 
Verstrickung zwischen Leben und Tod, zwischen ratio- 
nalem, letztlich tödlichem Streben nach Ordnung und 
nicht zu steuernder chaotischer, lebensvoller Lust. Beides 
gehört in gleichem Masse zu Olivestone: die strenge Rekt- 
angularität der Steinquader wie das nicht zu steuernde, 
Reinigungspersonal wie Restauratoren horrifizierende 
Fliessen des Öls. Wobei eines noch erwähnt werden 
muss: der Stein, das Prinzip der Leblosigkeit oder eben des 
Todes überdauert; das Öl — Verkörperung des Lebens — 
muss sorgsam behandelt, von Zeit zu Zeit nachgefüllt 
werden. 
Die Entstehungsgeschichte von “‘Olivestone’ ist in 
hohem Masse mit der Eröffnungsausstellung des Castello 
di Rivoli bei Turin verbunden. Innerhalb dieser am 18. 
Dezember 1984 inaugurierten Mostra dell’Arte Contempo- 
ranea «Quverture» wurde ‘Olivestone’ erstmals installiert, 
und zwar in einem Saal im zweiten Obergeschoss des 
Castello nonfinito, dessen Statik die Positionierung der 
gewichtigen Steinblöcke (der grösste wiegt über 2 Tonnen) 
weitgehend festgelegt hat. Beuys hat diese Auflagen akzep- 
tiert, das Resultat war eine sehr lockere, nicht rektanguläre 
Verteilung der Blöcke, die nur die eine Hälfte des Saales 
beanspruchte. Da dessen Wände von einer spielerisch 
leichten, ornamentalen Dekorationsmalerei, allerdings in 
einem stellenweise ruinösen Erhaltungszustand, über- 
zogen waren, ergab sich eine sehr harmonische, «maleri- 
sche» Gesamtwirkung, indem sich die Farbigkeit der Steine 
mit den Wandtönen in natürlicher Weise verband: die 
Steine schienen sich in dieser historisierenden Situation 
wohl zu fühlen. 
Beuys wusste, dass diese Installation nicht die endgül- 
tige sein würde. Nachdem das Museo di Rivoli die Frist des 
Vorkaufsrechts ungenutzt hatte verstreichen lassen, erteilte 
er, einer entsprechenden Anfrage von Harald Szeemann 
folgend, sein Einverständnis, dass das Werk im Kunsthaus 
Zürich eine definitive Bleibe finden möge. Dass dies erst im 
Mai 1992 — und damit mehr als sechs Jahre nach dem Tod 
des Künstlers — der Fall war sein würde, war damals keines- 
wegs voraussehbar. Voraussehbar war hingegen von Anfang 
an, dass die Skulptur, andernorts plaziert, eine wesentlich 
andere Ausstrahlung entwickeln würde. 
Als beste Kennerin des Werkes, die dessen ganzen 
Entstehungsprozess mitverfolgt hat und die mit den 
Gedankengängen von Beuys aufs innigste vertraut war, hat 
Lucrezia de Domizio die Zürcher Präsentation bestimmt. 
Da die Anordnung der fünf Einzelteile ın Rivoli statische 
Gegebenheiten zu berücksichtigen hatte, stand fest, dass 
eine Imitation der ursprünglichen Disposition wenig Sinn 
machen würde. In der Überzeugung, dass sich Beuys stets 
von den örtlichen Gegebenheiten anregen liess und auf 
deren besondere Atmosphäre einzugehen trachtete, hat 
sich die Schenkgeberin bemüht, eine spezifisch zürcheri- 
sche Situation zu schaffen. Im Klartext heisst dies: Sie hat 
die Steine in wohl erwogener, gleichmässiger Ponderation 
zueinander in Beziehung gesetzt, den rechten Winkel 
streng beachtend. Kein Einzelteil soll die anderen domi- 
nieren, die Skulptur ist als Ganzes und in sich Geschlos- 
senes einer Ellipse gleich wahrzunehmen. Der «maleri- 
sche», arhythmische Aspekt von Rivoli ist somit kühlerer, 
nordischerer Rationalität gewichen, die Steine heben sich 
schroff gegenüber den weiss gestrichenen Wänden ab — 
aber ihre voluminöse Plastizität, vielleicht auch wegen der 
strafferen räumlichen Konzentration, tritt gegenüber der 
Erstpräsentation viel deutlicher in Erscheinung. Man ist 
versucht zu sagen: in Zürich ist die Installation zu einer 
wahrhaften Skulptur geworden — was zweifellos dem 
Charakter des Werkes entspricht, ist doch ‘Olivestone‘ 
nicht wie so häufig im Werk von Beuys das manifeste Relikt 
einer vorangegangenen Aktion, sondern von Anfang an als 
eigenständige Skulptur konzipiert worden. 
Damit verbindet sich dieses Werk mit der beinahe 
gleichzeitigen, vielgliedrigen Steinskulptur «Das Ende des 
20. Jahrhunderts», in der jeder einzelne, liegende Basalt-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.