Volltext: Jahresbericht 1993 (1993)

Surrealismus und besonders bei Artaud im Hinterkopf 
behaltend — etwas in diesem Bewusstseinsstrom mitzu- 
schwimmen, um eine Ahnung von den hier möglicher- 
weise wirksamen psycho-physischen Vernetzungen zu 
erhalten. An der Oberfläche sieht man zuerst Vögel, viele 
Vögel: zunächst in Gitterstrukturen, wie sie die vorange- 
hende Werkgruppe oder eben Vogelkäfige charakterisieren. 
Wollte der Künstler, nachdem er so lange mit einfachen 
zentralen Motiven gearbeitet hatte, es nun mit dem Gegen- 
teil, möglichst zahlreichen kleinen, über die ganze Fläche 
gestreuten Elementen versuchen, wie es seinem Arbeiten 
mit frei gewählten paradigmatischen Vorgaben entspre- 
chen würde? Oder führte der äussere Anlass, zum vierzig- 
jährigen Bestehen der Galerie Springer einen Holzschnitt 
mit vierzig Vögeln zu machen, zu dem ganzen Problem- 
kreis? Und was soll der Titel Ciqo America? Hat er etwas mit 
dem Gemälde Adieu von 1982 und seinem wohl von Mon- 
drians New Yorker Boogie-Woogie-Bildern angeregten orna- 
mentalen Grund zu tun? Und führten diese zu dem ameri- 
kanischen Volkswagen, Fords Modell T, und zu dessen Vor- 
liebe für Volkstänze? Da sich dieser auch für Diät-Kult 
interessierte, wäre es «logisch», dass sich die Vögel nun 
plötzlich auf dem mit einem Brotlaib, Besteck und einem 
Krug gedeckten Tisch von Doktor Brot einfinden. Das grosse 
rote Brot und die Krüge —sie lösen als ursprünglicher und 
assoziationsreicher zur Zeit der Pastorale die Flaschen als ele- 
mentares Gefäss ab — eröffnen gegenüber den Vögeln die 
Möglichkeit, direkt aus dem Streumotiv einen Grund aus 
zinem Mosaik farbiger Flächen aufzubauen: Völkrzanz I, Im 
nächsten Völkszanz - Italien geraten die Krüge auf schwarzem 
Grund in schwebende Bewegung; einzelne nähern sich in 
ihren Formen Fischen — und plötzlich wimmelt im Völks- 
lanz IT - frivol der gleiche schwarze Grund von senkrecht 
nach oben schwimmenden Fischen. Völkszanz IM zieht die 
beschriebene Summe; mit Völkstanz IV fällt Muster und 
Motiv wieder auseinander, und man ist bei den Krügen 
zurück, Der letzte Völkstanz und Völkstanz - marode zeigen 
amorphe Fleckengebilde, in die man bald Fische, bald 
Krüge, bald Gesichter sehen kann. Alle diese Bilder werden 
von einer strahlend bunten Farbigkeit, von einem rhythmi- 
schen Wogen der stark ornamental geprägten zahlreichen, 
etwa gleichwertigen motivischen Elemente erfüllt, so dass 
Anmutungen an Volkskunst und Volkstanz durchaus mit- 
schwingen. 
Zu einem Volksfest gehört auch Trank und Speise — 
Krüge, Brot, Fische sind hier durchaus am Ort. Zugleich 
handelt es sich um solch archaisch primäre Dinge, dass 
ihnen in bedeutungsgeladenen Zusammenhängen — und 
Kunstwerke bilden geradezu definitionsgemäss solche — 
eine religiöse Symbolik zuwächst. In Nachtessen in Dresden 
schwingt ebenso wie in Kiefers Parsifal die Erinnerung an 
das zentrale christliche Mysterium, das Letzte Abendmahl 
Christi, mit; die wunderbare Vermehrung des Weines in 
den Krügen der Hochzeit zu Kana und der Fische und 
Brote bei der Speisung der Fünftausend am See Genezareth 
werden seit alters mit der steten Erneuerung der Eucharistie 
in der Messfeier in Verbindung gebracht: so werden die 
Gnadengaben allem Volke zu Teil. Nun, Baselitz hat nicht 
zuletzt deshalb die Welt auf den Kopf gestellt, weil er solche 
Bedeutungsanmutungen relativieren wollte. Primär sei die 
künstlerische Form — und da schwingt in den rhythmi- 
schen Bewegungen der Farben und Formen von Völkstanz II 
die Idee von festlicher Fülle und Lebensfreude mit welcher 
tieferen Begründung auch immer und ergötzt den sinnigen 
Betrachter. 
Christian Klemm 
Rotes Pferd (1986; Lindenholz, Ölfarbe; 100 x 40 x 51,5 cm) erstmals in Georg 
Baselitz. Skulpturen und Zeichnungen. Ausstellungskatalog Kestner-Gesellschafi 
Hannover, ed.Carl Haenlein,1987, Nr.16 mit den zugehörigen Zeichnun: 
gen. Zu den Pastoralen und ihren zahlreichen Studien s. Georg Baselitz, Pasto: 
male, Ausstellungskatalog Museum Ludwig Köln 1987. 
Völkstanz II (13. —22.11.1989; Öl auf Leinwand, 250 x 250 cm, Geschenk 
des Künstlers 1991, Inv.Nr. 1991/10), erstmals abgebildet in Recent paintings by 
Georg Baselitz, With an essay by Norman Rosenthal, Anthony d’Offay Gallery 
London 1990, Abb. 11, hier der erwähnte Text Ciao America, S. 65. Die ande: 
ren Zitate von Baselitz aus Das Rüstzeug des Malers (1985; u.a. im Ausstel- 
lungskatalog Georg Baselitz, Kunsthaus Zürich 1990, S. 223f) und aus Georg 
Baselitz im Gespräch mit Heinz Peter Schwerfel, Köln 1989, S. 29, 56.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.