Surrealismus und besonders bei Artaud im Hinterkopf
behaltend — etwas in diesem Bewusstseinsstrom mitzu-
schwimmen, um eine Ahnung von den hier möglicher-
weise wirksamen psycho-physischen Vernetzungen zu
erhalten. An der Oberfläche sieht man zuerst Vögel, viele
Vögel: zunächst in Gitterstrukturen, wie sie die vorange-
hende Werkgruppe oder eben Vogelkäfige charakterisieren.
Wollte der Künstler, nachdem er so lange mit einfachen
zentralen Motiven gearbeitet hatte, es nun mit dem Gegen-
teil, möglichst zahlreichen kleinen, über die ganze Fläche
gestreuten Elementen versuchen, wie es seinem Arbeiten
mit frei gewählten paradigmatischen Vorgaben entspre-
chen würde? Oder führte der äussere Anlass, zum vierzig-
jährigen Bestehen der Galerie Springer einen Holzschnitt
mit vierzig Vögeln zu machen, zu dem ganzen Problem-
kreis? Und was soll der Titel Ciqo America? Hat er etwas mit
dem Gemälde Adieu von 1982 und seinem wohl von Mon-
drians New Yorker Boogie-Woogie-Bildern angeregten orna-
mentalen Grund zu tun? Und führten diese zu dem ameri-
kanischen Volkswagen, Fords Modell T, und zu dessen Vor-
liebe für Volkstänze? Da sich dieser auch für Diät-Kult
interessierte, wäre es «logisch», dass sich die Vögel nun
plötzlich auf dem mit einem Brotlaib, Besteck und einem
Krug gedeckten Tisch von Doktor Brot einfinden. Das grosse
rote Brot und die Krüge —sie lösen als ursprünglicher und
assoziationsreicher zur Zeit der Pastorale die Flaschen als ele-
mentares Gefäss ab — eröffnen gegenüber den Vögeln die
Möglichkeit, direkt aus dem Streumotiv einen Grund aus
zinem Mosaik farbiger Flächen aufzubauen: Völkrzanz I, Im
nächsten Völkszanz - Italien geraten die Krüge auf schwarzem
Grund in schwebende Bewegung; einzelne nähern sich in
ihren Formen Fischen — und plötzlich wimmelt im Völks-
lanz IT - frivol der gleiche schwarze Grund von senkrecht
nach oben schwimmenden Fischen. Völkszanz IM zieht die
beschriebene Summe; mit Völkstanz IV fällt Muster und
Motiv wieder auseinander, und man ist bei den Krügen
zurück, Der letzte Völkstanz und Völkstanz - marode zeigen
amorphe Fleckengebilde, in die man bald Fische, bald
Krüge, bald Gesichter sehen kann. Alle diese Bilder werden
von einer strahlend bunten Farbigkeit, von einem rhythmi-
schen Wogen der stark ornamental geprägten zahlreichen,
etwa gleichwertigen motivischen Elemente erfüllt, so dass
Anmutungen an Volkskunst und Volkstanz durchaus mit-
schwingen.
Zu einem Volksfest gehört auch Trank und Speise —
Krüge, Brot, Fische sind hier durchaus am Ort. Zugleich
handelt es sich um solch archaisch primäre Dinge, dass
ihnen in bedeutungsgeladenen Zusammenhängen — und
Kunstwerke bilden geradezu definitionsgemäss solche —
eine religiöse Symbolik zuwächst. In Nachtessen in Dresden
schwingt ebenso wie in Kiefers Parsifal die Erinnerung an
das zentrale christliche Mysterium, das Letzte Abendmahl
Christi, mit; die wunderbare Vermehrung des Weines in
den Krügen der Hochzeit zu Kana und der Fische und
Brote bei der Speisung der Fünftausend am See Genezareth
werden seit alters mit der steten Erneuerung der Eucharistie
in der Messfeier in Verbindung gebracht: so werden die
Gnadengaben allem Volke zu Teil. Nun, Baselitz hat nicht
zuletzt deshalb die Welt auf den Kopf gestellt, weil er solche
Bedeutungsanmutungen relativieren wollte. Primär sei die
künstlerische Form — und da schwingt in den rhythmi-
schen Bewegungen der Farben und Formen von Völkstanz II
die Idee von festlicher Fülle und Lebensfreude mit welcher
tieferen Begründung auch immer und ergötzt den sinnigen
Betrachter.
Christian Klemm
Rotes Pferd (1986; Lindenholz, Ölfarbe; 100 x 40 x 51,5 cm) erstmals in Georg
Baselitz. Skulpturen und Zeichnungen. Ausstellungskatalog Kestner-Gesellschafi
Hannover, ed.Carl Haenlein,1987, Nr.16 mit den zugehörigen Zeichnun:
gen. Zu den Pastoralen und ihren zahlreichen Studien s. Georg Baselitz, Pasto:
male, Ausstellungskatalog Museum Ludwig Köln 1987.
Völkstanz II (13. —22.11.1989; Öl auf Leinwand, 250 x 250 cm, Geschenk
des Künstlers 1991, Inv.Nr. 1991/10), erstmals abgebildet in Recent paintings by
Georg Baselitz, With an essay by Norman Rosenthal, Anthony d’Offay Gallery
London 1990, Abb. 11, hier der erwähnte Text Ciao America, S. 65. Die ande:
ren Zitate von Baselitz aus Das Rüstzeug des Malers (1985; u.a. im Ausstel-
lungskatalog Georg Baselitz, Kunsthaus Zürich 1990, S. 223f) und aus Georg
Baselitz im Gespräch mit Heinz Peter Schwerfel, Köln 1989, S. 29, 56.