Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

zip der «Linien» durchdrungen und mit prickelnden Ener- 
gien aufgeladen. Die Striche verlieren in dieser Fusion 
ihren spezifischen Zeichencharakter an ein Allgemeine- 
res, das man als Analogie oder Extremfall von «peinture», 
des Pinselwerkes der traditionellen Malerei betrachten 
kann. Obwohl bei Cy Twombly hier wie zuvor Mache 
ınd Materie prinzipiell über irgendwelche abbildungs- 
haften Anmutungen dominieren, ergibt sich so eine 
Annäherung an ältere Kunst und insbesondere an Monet, 
der, von der anderen Seite kommend, am weitesten gegen 
diesen Bereich vordrang. Nicht von ungefähr geschah das 
in den grossen Seerosen-Panneaux; das Element des Was- 
sers, in dem die bei Festkörpern getrennten Prinzipien ver- 
schwimmen, wird auch bei Twombly dominieren und 
ihm helfen, in dem Triptychon Hero und Leander die 1978 
noch ungelösten Probleme zu gestalten®. Schweifen wir 
kurz in die Sammlung des Kunsthauses ab, sehen wir hier 
zwei durchgehende Hauptlinien konvergieren: das Feiern 
malerischer «peinture» bei Manet, Monet oder Ryman 
und die expressive Aktivierung der gemalten «Haut» bei 
Hodler, Munch, Kokoschka, dessen Werk Twomblv übri- 
zens früh rezipiert hat. 
Bereits 1961/1962 scheint sich in Twomblys Werk eine 
ähnliche Entwicklung anzubahnen, als die «Zeichen» 
zunehmend pastos farbig - meist rot — wurden und sich 
vom Skripturalen zu fleckigen Ergüssen wandelten. Bevor 
die Tendenz abbrach und von ganz andersartigen, dun- 
<elgrundigen Bildern mit streng linearer weisser Schrift 
abgelöst wurde, kulminierte sie in einer Anzahl «Portraits» 
mythischer Gewalttaten; zwar nicht das malerischste, aber 
das grösste, brutalste und in verschiedener Hinsicht kon- 
sequenteste dieser Werke ist Vengeance of Achilles. Auch 
ler hat sich die aufgewühlte Farbmaterie von dem unbe- 
nalten Grund in eine einzige grosse Form, das Dreieck 
der Speerspitze, zusammengezogen, doch bleibt sie in das 
gezeichnete grosse A und den skripturalen Gestus von 
Titel, Signatur und sich sträubendem «Haar» eingebun- 
den: beide Prinzipien sind in ihrer je eigenen, spezifisch 
wirkungsmächtigen Autonomie vollständig ausgeprägt 
ınd nur durch die Energie der inhaltlichen Kongruenz 
zusammengezwungen. Systematisch zu sprechen, führt 
der nächste Schritt einerseits zu den wieder streng skrip- 
‚uralen, dunkelerundig farblosen Schrifttafeln der späten 
sechziger Jahre, andererseits zu der mit Goethe in Italy zum 
Durchbruch kommenden malerischen Auffassung. Inter- 
essanterweise griff Iwombly mit der unmittelbar zuvor 
entstandenen grossen Arbeit Fifly Days at Ilium” die Achil- 
leis wieder auf, um das 1962 in eine dramatische Ikone 
zugespitzte Thema episch in zehn Teilen auszubreiten. 
1977 wurde Cy Twombly fünfzig: ein Alter, in dem 
man sich nicht mehr mit den triebgeladenen Gewalttaten 
eines Achill identifizieren mag. Ohne gleich den Mann von 
fünfzig Jahren in Wilhelm Meisters Wanderjahren zu be- 
mühen, scheint Goethe nun eine sinnvollere Referenz- 
person: seine italienische Reise markiert zugleich dessen 
Überwinden jugendlichen Sturms und Drangs und den 
Übergang zum tieferen und breiteren Wirken der Reife. 
Vor allem fand er in Rom den weiten Rhythmus der durch 
die Jahrhunderte und Jahrtausende hallenden Mythen, 
eine sinnlichere Kunst, ein freieres Leben, einen heiteren 
Himmel: Goethe in Italien wurde selbst ein Mythos, das 
vielen Nordländern den Weg wies. Auch wenn sich 
Twombly schon durch die emphatische Einverleibung 
des Namens in seine Handschrift in gewisser Weise mit 
Goethe identifiziert, sollte man diesen Punkt vielleicht 
ebensowenig strapazieren wie allfällige konkrete Ausdeu- 
tungen des Gesehenen im Hinblick auf den Titel. Man 
könnte etwa daran erinnern, dass neben der Antike auch 
naturkundliche und insbesondere geologische Interessen 
Goethe leiteten: überall, selbst in Sizilien, fand er das 
«aquatische» und nicht das «vulkanische» Prinzip der 
«Geognosis» bestätigt. Ein landschaftliches Wogen 
durchzieht auch Twomblys Werkgruppe; in den beiden 
grossen Bildern kann man die Widerstände gegen die 
ltalienfahrt - die Alpen, wenn man so will - sehen und zu- 
gleich die Klärung vom ersten, braun triefenden zu dem 
:n reinerem Grün schwebenden zweiten bis hin zu der 
ganz durchlichteten Haupttafel, in der sich helles Blau in 
die Schrift mischt. Es ist nun ein heiteres, von den Waag- 
‚echten bestimmtes Herabkommen, im Gegensatz zu 
dem heroisch senkrecht Aufschiessenden des Achill. Die 
absolute Setzung weicht den sich überlagernden Schrif- 
ten, den Schichten der auf die Tiefe der Zeiten offenen 
Arbeit am Mythos ähnlich, wobei die Steigerung der Züge 
von der lockeren Eile des Dichternamens zu den zuneh- 
mend steileren fast monumentalen Lettern des gelobten
	        
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