Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

Landes nicht zu übersehen ist. Besonders das Y, auf das 
die ganze Bewegung zielt, ist markant herausgehoben: ist 
es das in der pythagoräischen Tradition so betonte Zei- 
chen der Entscheidung? Die damit verbundene Selbstbe- 
stimmung und Selbstfindung im Gang zu den Wurzeln 
der eigenen Tradition in Rom mag letztlich der tiefste 
Grund der Italienreisen sein. Aber wie «Roma» umgekehrt 
gelesen «Amor» ergibt, so erinnert auch die Form des 
Ypsilons an anderes, wie ein Blick quer durch den Raum 
zu Raetz’ Ave Eva lehrt: wie in den Mythen ist auch in 
Twomblys Kunst das sinnlich Elementare stets miteinge- 
woben. 
Die Skulpturen 
Wie immer, sind auch bei Cy Twombly die Skulpturen 
von elementarer, unmittelbarer Gegenwärtigkeit und trotz 
ihrer Schlichtheit von unabweislicherer auratischer 
Ausstrahlung als die Gemälde, denn sie sind wie wir selbst 
im tatsächlichen Raum vorhandene Gegenstände”. Und 
doch sind sie einem kritischen Verständnis fremder, Ja sie 
scheinen sich diesem in ihrem fraglosen Vorhandensein 
zu entziehen, denn das Medium der Gedanken gleicht 
eher dem Vorstellungsraum von Gemälden als der opaken 
Dichte der Dinge. Der Blick auf ein Bild wird durch 
dessen fiktionalen Charakter sogleich in das Innere der 
eigenen Vorstellung zurückgewendet, während das Objekt 
andere, sinnlichere, vorsprachliche Anmutungsqualitäten 
weckt. 
Nun geht es in Twomblys Kunst allgemein um das 
[neinander von sinnlicher Dichte, von Körper- und Haut- 
arfahrung, von Gefühlen und Erinnerungen, und um 
deren Transformierung und Metamorphose in Zeichen, 
(deogramme, Farbmaterie, Lichträume, um das Festhalten 
vitaler Vibrationen und Erschütterungen, ohne dass aus 
diesen «Versteinerungen» der Lebensspuren das Leben 
flieht. Es ist eigentlich ein paralleles Unterfangen zu 
Giacomettis «unmöglichem» Projekt, das unmittelbar 
Lebendige der menschlichen Begegnung in das Dauer- 
hafte der Skulpturen zu bannen. Diese onthologische 
Paradoxie, die aller «verewigenden» Kunst inhärent ist, 
wird im Spontanismus des existentialistischen Informel 
besonders virulent. 
Wie wir bei Goethe in Italy bemerkten und frühere 
Werke noch deutlicher zeigen, eignet deshalb auch den 
Gemälden ein haptisch Gegenständliches über das 
Objekthafte hinaus, das die Moderne allgemein vom Bild 
fordert: es ist das Hautartige vielfach übertünchter Mau- 
ern, das von den Graffiti verletzt wird. Die fiktionalen 
Gemälde erhalten also von ihrer Farbschicht eine «echte» 
Materialität, von der sich die aufgebrachten Zeichen tra- 
gen lassen. Bei den Skulpturen ist es genau umgekehrt: 
hier sind die Zeichen von vornherein Gegenstände, die 
nun durch die weisse Übertünchung in den schwerelos 
lichten Raum poetischer Assoziationen eingetaucht wer- 
den. Diese Metamorphose entrückt aus drei Ebenen 
gegenständlicher Realität: zunächst aus den Materialien, 
aus denen der Künstler seine Plastiken zusammenwach: 
sen liess, sodann von ihrem Modellcharakter als Musik- 
instrumente, Gefährt oder dergleichen und schliesslich 
von ihrer Dinglichkeit als Skulptur. Vielleicht bieten diese 
drei Aspekte geeignete Kriterien, sich diesen in ıhrer rät- 
selhaften Selbstverständlichkeit ruhenden Gebilden etwas 
zu nähern, wobei das Verhältnis zu den Gemälden stets 
mitbedacht werden soll. 
Die Materialien, die Cy Twombly verwendet, sind 
zunächst Holzstückchen, Karton, Draht - die Bricolage- 
Dinge, die Picasso mit seinen kubistischen Materialreliefs 
eingeführt hat und die seither die Domäne der Maler-Pla- 
stiker geblieben sind. Im Gegensatz zu professionellen 
Bildhauern gehen sie mit Vorliebe nicht von der rohen 
amorphen Materie aus, sondern greifen diese in bereits 
bearbeiteten Stücken auf; mit dem Stoff ist so immer auch 
schon eine Form gegeben und gewählt. Zwar haben sich 
zwei Arrangements des jungen Twombly aus spezielleren 
«objets trouves», wie Türknäufen, erhalten, die von einer 
frühen Begeisterung für Schwitters zeugen!®, doch im fol- 
genden zieht er schlichte, unspezifische Dinge vor - wich- 
tig ist ihm nur, dass sie nicht neu, dass sie bereits eine 
Geschichte haben, eine anonyme, randständige, beiläu- 
fige, wie eben die Zeichen, die er auch in den Bildern 
verwendet. 
Holz ist sein bevorzugtes Material, in dem natürliches 
Wachstum kontinuierlich in menschliche Geschichte 
übergeht, voller mythischer Erinnerungen und doch von 
der gewöhnlichsten Alltäglichkeit. Dass in den sichtbaren
	        
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