Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

Parallelen seiner Jahresringe die durchwachsene Zeit stets 
gegenwärtig bleibt, entspricht den zeithaltigen Schich- 
tungen der Bildgründe; die Lineamente der Fasern sind 
Spuren der Lebensvorgänge wie Twomblys vital gespann- 
te und emotional zitternde Striche. Meist greift er es ın 
Form von Kistchen auf, die mit ihrem Inhalt ihren Her- 
stellungszweck verloren haben; gerade dadurch sind sie 
als leere wieder zu ihrem hölzernen, so und so proportio- 
nierten Kistchen-Dasein zurückgekehrt, das nun neuen 
Assoziationen und Zusammenhängen offen steht. Das 
Dienende ist ihnen eigen und so dienen sie oft als Sockel, 
doch gehen sie in dieser Funktion nicht auf; sie bleiben 
eigenwertige, gleichberechtigte Elemente des Werkes. Am 
deutlichsten wird dies in den einfachsten Arbeiten, etwa 
in derjenigen mit dem einzelnen, leicht abgehobenen 
Brettchen (Abb. 23), in dem nun zugleich das Liegende 
ınd Labile von Brettern im «Normalzustand» zur Geltung 
<ommt. Latten haben in ihrer Gerichtetheit wieder einen 
anderen, dynamischeren Charakter, den Twombly in der 
aufschnellenden, zeichenhaft in den Raum ragenden Dia- 
gonale nützt (Abb. 21). Auch wenn man in diesen drei 
Verarbeitungsformen von Holz rein formal Körper, 
Fläche und Linie sehen will, spürt man sogleich, dass dies 
eine unzulässige Reduktion wäre, dass die sinnliche Sub- 
stanz, Körperlichkeit, lebens- und geschichtenhaltige 
Rauheit wesentlich bleibt und das eigentliche Substrat bil- 
det. Wie ganz anders wirkt dies als die rein geometrischen 
Formen, welche die Minimal-Artisten für ihre aseptischen 
Wahrnehmungsexerzitien produzieren liessen! 
Holz erscheint nicht nur in aufgesägter, sondern auch 
in naturwüchsiger Form, nicht in der Massigkeit von 
Baumstämmen, aber als aufstrebende Ästchen und fein 
zespannte Gerten. Einer der entsprechenden Zürcher 
Arbeit (Abb. 20) eng verwandten Skulptur fügte Twomb- 
'y den Text ein: «And we who have always thought of hap- 
piness climbing, / would feel the emotion that almost 
;tartles when / happiness falls?» Das dem Pflanzenreich 
entnommene Material wird in der ganzen Fülle seines 
Gewachsenseins in das Kunstwerk aufgenommen und 
zum sympathetischen Träger menschlicher Emotionen. 
Twombly ist noch weiter gegangen und hat nicht nur die 
dauerhaften Blätter der Palme, sondern auch andere ver- 
zängliche, dazu Blumen, Rosen und Tulpen, in seine 
Skulpturen aufgenommen, die so nur in ihren Abgüssen 
oder mit künstlichem Ersatz überleben können. 
Eine zweite, untergeordnete Kategorie von Materialien 
bilden die Elemente, welche die organischen verbinden 
oder zusammenhalten, das «Bindegewebe». Nägel, Kleb- 
stoff und dergleichen verschwinden öfters unter der 
Bemalung - vielleicht fehlen sie überhaupt, denn die ein- 
zelnen Teile könnten auch lose aneinander gefügt sein. 
Die Fragilität der Objekte gehört wesenhaft zu ihnen, 
Resultate seismographischer Eingriffe, die weder schwere 
Arbeit noch gewichtige Massen vertragen. Der Künstler 
gibt sie deshalb auch nicht in den Handel - für diesen sind 
nur die Abgüsse bestimmt -, sondern hütet sie zu Hause 
oder in Museen!®*, Manchmal sprechen die verbindenden 
Materialien durchaus mit: ein Draht wiederholt die ver- 
knüpfende Geste, Bänder umgreifen wie Hände das 
Schilfrohr (Abb. 20, 14). Um 1955 schuf Twombly ein 
paar Skulpturen als umwickelte Bündel von Umwickel- 
tem; das Zwanghafte des Einschnürens erinnert an Ritual- 
objekte primitiver Kulturen!“ 
Erst relativ spät greift Twombly zu einem amorphen 
Material, einem Gemisch von Sand und Gips, dem der 
Künstler eine Form geben muss, wie es bei herkömmli- 
cher Skulptur üblich ist. Soweit wir sehen, verwendet er es 
erstmals für das aus zwei Rädern und einem Dreieck gebil- 
deten Objekt (Abb. 18), das an die Zeichen für archaische 
Streitwagen in den Gemälden aus dem Trojanischen Krieg 
erinnert”. Es stammt von 1979, also dem Jahr nach Goethe 
in Italy und der dort skizzierten Annäherung der Verwen- 
dung von Farbe an traditionellere Vorstellungen. Doch 
wie in jenem Fall bleibt auch hier die Materie selbst primä- 
rer Ausdruckswert: das spröd poröse, die geometrischen 
Formen korrosiv zersetzende erdige Gemisch gleicht das 
Zeichen halb verwitterten archäologischen Fundstücken 
an - eine Spur menschlicher Willensaufbäumung, die sich 
ım Gestaltlosen des Erdreiches verliert. Dass dieses chto- 
nische Chaos aber zugleich der Nährboden neuen Lebens 
bildet, zeigt die Verwendung der gleichen Masse in den 
Objekten mit pflanzlichen Elementen von 1983 (Abb. 20, 
24) und der Humul genannten Skulptur von 1986, in der 
eine Scheibe aus solch amorpher Aufschäumung auf- 
:aucht und so unmittelbar an die von Twombly auch in 
Bildern evozierte Schaumgeburt der Aphrodite erinnert!®.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.