Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

klassizistischen Gartenmonumenten —- Konkretisationen 
zultischer Handlungen oder zwischen Mikro- und Makro- 
Kosmos vermittelnder religiösen Vorstellungen. Rotalla 
(Abb. 19) steht solchen am nächsten: zwei Scheiben stei- 
gen übereinander auf, die vordere halb in die Ebene 
gebrochen wie der Reflex des aus dem Meer aufsteigenden 
Gestirns, das sich so in seinem Erscheinen dem Betrach- 
ter öffnet. Körperlos und streng frontal auf die eine axiale 
Ansicht beschränkt, bleibt es ihm ähnlich unfassbar 
und wie eine romanische Madonna mit thronendem 
Christuskind entrückt. 
Eine solche Beschreibung führt vom Aufzeigen kunst- 
historischer Zusammenhänge zu formalen oder «phäno- 
menologischen» Bestimmungen dieser Dinge als Skulptu- 
ren — ein anderes weites Feld, das überdies für jedes Werk 
einzeln zu beackern wäre. Was etwa soeben über die Ein- 
ansichtigkeit von Rotalla bemerkt wurde, gilt sonst nicht; 
ebensowenig lässt sich der Bezug zum Raum verallgemei- 
nern. Auch die Plastizität prägt sich unterschiedlich aus, 
doch ergeben sich aus den brüchigen Materialien und der 
Art, wie sie durch die weisse Tünche neutralisiert und 
zugleich fühlbar gemacht werden, Gemeinsamkeiten: 
weder das muskulös Gespannte oder organisch Schwel- 
lende noch das lastend Massige oder ein nur formdefinie- 
rendes Leeres charakterisieren diese Skulpturen; vielmehr 
»jgnet ihnen ein Fragiles, Zeichenhaftes, Erscheinendes, 
der Schwere dumpfer Stofflichkeit Enthobenes. 
Als weitere allgemeine Bestimmung gilt es, die prinzi- 
pielle Einheit und Geschlossenheit dieser Werke gerade 
wegen ihrer vergänglichkeitsbedrohten Brüchigkeit und 
dem stets fühlbaren geschichtlichen Gewordensein zu 
betonen. Jedes einzelne ist ein Monument, nicht nach sei- 
ner Grösse oder unverrückbaren Schwere, aber nach sei- 
ner Zeichenhaftigkeit und geistigen Energie. Aus dieser 
Ganzheitlichkeit folgt die durchgehende Definiertheit der 
einzelnen Teile im Hinblick auf das Ganze: nur auf ihren 
Verhältnissen untereinander und insgesamt beruhen ihre 
Bedeutsamkeiten. Dass entsprechend alle Elemente not- 
wendig dazugehörig sind und mitbedacht werden müs- 
sen, zeigt sich besonders deutlich an den untersten, als 
Sockel wirkenden Teilen. 
Die Problematisierung des Sockels gehört zu den wich- 
gen Fragen der modernen Skulptur: besonders Giaco- 
metti hat hier wichtige Lösungen entwickelt. Der Ver- 
gleich von Vide poche — einem sog. «objet sans base» - mit 
Rotalla zeigt die Integration des Sockels in die Skulptur 
und zugleich, dass Twombly an der fiktiven Objekthaf- 
tigkeit des Surrealismus nicht mehr interessiert ist. Wich- 
tiger scheinen für ihn die zwar kleinen, aber im Verhältnis 
zu den winzigen Figürchen übermächtigen, häufig abge- 
treppten Quader, die in den Skulpturen um 1940/1945 
den Eindruck einer grossen Ferne der erscheinenden Per- 
son vermitteln sollen. Eine ähnliche Umkehrung in der 
Gewichtung von Sockel und Gesockeltem zeigt u.a. die 
«Brettchen»-Skulptur von 1978 (Abb. 23) und demon- 
striert die völlige Integration des Sockels als gleichwertigen 
Teils ins Werkganze, Spätere Arbeiten Giacomettis entfal- 
ten die räumliche Funktion der Standplatte als Ort der 
aufragenden oder schreitenden Figuren; Twombly ver- 
fährt bei seinen «Schiff»-Plastiken (Abb. 17, 22) ähnlich. 
Wie schon beim Palais quatre heure le matin von 1932, der 
ihn früh beeindruckte, wird die tragende Ebene durch 
eine Schattenzone vom nicht mehr zugehörigen 
Museumssockel abgehoben; in sie taucht das Ruder von 
By the Ionıan Sea (Abb. 17). 
Zum Abschluss unserer Bemerkungen kehren wir wie- 
der zur Betrachtung der Skulpturen im Werkganzen 
zurück. Denn sie bleiben die Arbeiten eines Maler-Plasti- 
kers, wie sie in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts 
so wichtig wurden; für sie ist die bemerkte geringe Gene- 
ralisierungsfähigkeit primärer skulpturaler Eigenschaften 
- Raumbezug, Plastizität, Ansichtigkeit usw. - typisch: sie 
sind nicht Spezialisten dieser Gattung und legen keinen 
Wert auf die vollständige Durchdringung ihrer Probleme 
oder auch nur ihrer implizierten handwerklichen Fähig- 
keiten; vielmehr experimentieren sie in einem ver- 
wandten Feld mit Fragestellungen, die aus ihrem eigenen 
kommen, um dieses besser zu verstehen. Die unterschied- 
lichen Bedingungen führen zu interessanten Verschie- 
bungen im Verhältnis der gleichen Kunstmittel; so haben 
wir die Inversion in den Funktionen der Zeichen und Far- 
ben bei den beiden Gattungen bemerkt. Ähnliches gilt für 
die Zeitstruktur: während die Gemälde in ihrer weiten, 
flächigen Ausdehnung ganz von Abläufen bestimmt sind 
- sich selbst erzählende Linien, Spuren von sich 
entwickelnden Emotionen, sich rituell wiederholende
	        
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