Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

werke ersten Ranges im Original sah. «Diese köstlichen, 
Geist und Sinn zur wahren Kunst vorbereitenden Erfah- 
rungen wurden jedoch durch einen der traurigsten An- 
blicke unterbrochen und gedämpft, durch den zerstörten 
und verödeten Zustand so mancher Strassen Dresdens, 
durch die ich meinen Weg nahm. Die Mohrenstrasse im 
Schutt, sowie die Kreuzkirche mit ihrem geborstenen 
Turm drückten sich mir tief ein und stehen noch wie ein 
dunkler Fleck in meiner Einbildungskraft?.» 
In unserem Zusammenhang tritt die besondere Pointe 
dieser Beschreibung hervor: 1768 war der Turm längst 
abgetragen, so dass in Goethes «Einbildungskraft» Bellot- 
tos Gemälde? an die Stelle der gesehenen Realität getreten 
sein muss. Und dies nicht von ungefähr, entzückte ihn 
doch auf dieser Stufe seiner Geschmacksbildung vorzüg- 
lich die täuschend echte Schilderung der Wirklichkeit, 
«wo der Pinsel über die Natur den Sieg davon trug.» Lern- 
te er nun, «die Natur ... mit den Augen dieses oder jenes 
Künstlers zu sehen» und so eine Schusterwerkstatt als ein 
Gemälde Ostades zu geniessen, um wieviel eher muss sich 
ihm das Bild Bellottos als «Vorbild» und Erinnerungsbild 
der Wirklichkeit eingeprägt haben. Nicht nur um des 
wörtlichen Sinnes willen nannte er seinen Jahrzehnte spä- 
ter geschriebenen Lebensbericht Dichtung und Wahrheit: 
war er sich doch gerade durch seine Dresdener Erfahrun- 
gen des Wechselspiels zwischen Wahrnehmung von Wirk- 
lichkeit und deren erinnerungsmächtigen Verdichtung in 
der künstlerischen Gestalt inne geworden. 
Die geistige Aneignung des Sichtbaren geschieht vor- 
zugsweise durch die Fixierung des Blickes, das Anhalten 
des unaufhörlichen Stromes wirr eindringender Sinnes- 
eindrücke, durch die Konzentration auf einen bestimm- 
ten Aspekt, der nun in seinen Eigenarten analysiert und 
erfasst werden kann. Die Bilder der Maler sind die gros- 
sen Lehrmeister bei solch reflexivem Tun, denn in ihnen 
ist nicht nur diese Stillegung bereits geleistet, sondern 
durch die Methode ihrer Darstellungsweise zeigen sie 
zugleich Möglichkeiten der Anschauung, des bewussten 
Wahrnehmens von Wirklichkeiten auf. Überdies gelingt 
as den bedeutendsten Künstlern, die unweigerlich entflie- 
hende Lebensfülle der gegenwärtigen Wirklichkeit, ihre 
Wärme und Helle, die Weite des Raumes und das Fliessen 
der Zeit, die Spannung des sich bewegenden Körpers und 
der vielfach gereizten Sinne durch die Wirkungsmacht 
ihrer Gestaltung, die evokative Kraft ihres Vorstellungs- 
vermögens in ein Analoges zu verwandeln und so für den 
Betrachter dauernd festzuhalten. In unserem Gemälde 
“ritt schliesslich noch die Einzigartigkeit des Gegenstan- 
des dazu, den Bellotto in einer ungewöhnlichen und 
unverbrauchten Komposition zu erfassen wusste, so dass 
eine ebenso lebensvoll reichhaltige wie frappant unver- 
wechselbare Bildprägung entstand. Man könnte diese 
Qualität, die ein Bild schwer zu vergessen macht, Bild- 
haftigkeit im genaueren Sinne oder auch - von «Ikone» - 
[konizität nennen; das anschliessend zu betrachtende 
Gemälde Amor und Psyche von Füssli besitzt sie gleichfalls 
in hohem Masse. 
Die künstlerische Tradition, deren kumulierten Erfah- 
rungsschatz erst ein solches Resultat ermöglichte, ist 
zunächst die Gattung der realistischen Stadtansicht, der 
Vedute. Sieht man von ihrer Vorgeschichte ab, die man 
mit van Eyck oder Campin, jedenfalls mit Gentile Bellini 
sinsetzen lassen kann, so beginnt sie erst in der nieder- 
'ändischen Fachmalerei des 17. Jahrhunderts, in der Berck- 
heyde, Jan van der Heyden und Vermeer die wesentlichen 
Gestaltungsmittel bereitstellten. Ihren Höhepunkt findet 
sie sodann in der anderen grossen, künstlerisch aktiven 
Republik, Venedig, bei Canaletto und dessen Neffe 
Bellotto. Fasst man nun ihre Nachfolger, Guardi und 
Romantiker wie Nehrly auf der einen Seite, andererseits 
die nordischen Klassizisten oder Biedermeier-Maler wie 
Gärtner oder Kgbke ins Auge, beginnt sich schon das Aus- 
einandertreten des subjektiven Erlebens in der Malerei 
ınd des technisch objektiven Registrierens in der Photo- 
graphie abzuzeichnen, mit dem die Gattung an ihr Ende 
gelangt. Nach barock dynamischen Frühwerken zeichnet 
die reife, klassische Kunst Canalettos gerade die Einheit 
dieser beiden Aspekte aus, die er anscheinend durch die 
Rezeption gewisser Ideen aus Newtons Physik und Optik 
srreichte*, So scheint das Konzept des «weisen» Lichtes, 
das alle Farben in sich enthält, zu der klaren Helle und zur 
Vorliebe für reine Spektralfarben geführt zu haben; in der 
grossen, am Übergang vom frühen zum reifen Werk ste- 
1enden Zürcher Vedute des Dogenpalastes lässt sich dies 
in der fast milchigen Helligkeit und der Buntheit der 
Sewänder bereits deutlich sehen. Für die Erfassung der
	        
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