Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

Stadt wird sodann das physikalische Prinzip eines ein- 
heitlichen, zunächst leeren, mathematisch zu beschrei- 
benden Raumes wichtig. Die dramatischen Wolken und 
atmosphärischen Schleier verschwinden; bis in die fernste 
Tiefe stehen die Häuser in heiterer, durchsichtiger Klar- 
heit. Nicht mehr als manchmal fast drohende Massen wir- 
ken sie, sondern leicht und präzis wie die Oberflächen 
regelmässiger Körper. Ihre Gestalt im einzelnen und ihre 
Beziehungen untereinander sind zwar zunächst mit der 
Camera obscura exakt aufgenommen, anschliessend aber 
vom Künstler nach den Erfordernissen der Komposition 
viel entschiedener, als der Augenschein glauben macht, 
modifiziert: Spannung und Rhythmik der Flächengliede- 
rung, Blickführung, Bevorzugung bildparalleler Elemente 
zur Klärung der räumlichen Beziehungen und vieles der- 
gleichen mehr bestimmen die Gestaltung®. Und damit 
tritt der Inhalt in Konsonanz mit dem prinzipiellen Cha- 
rakter eines Gemäldes als von Farben bedeckte Fläche: auf 
dieser Übereinstimmung mit den «Urtatsachen des Bil- 
des» beruht die «einfachste Idealität», die aus Canalettos 
Bildwelt spricht und ihr etwas «grandios Weiträumiges, 
Aufgeräumtes, Festliches und Feierliches» verleiht, wie 
Hetzer in einem schönen Aufsatz gezeigt hat“ 
Bernardo Bellotto (1721-1780) war seines Onkels 
bester Schüler; vollständig eignete er sich seine Bild- 
erzeugungs-Iechnologie an, wie ein paar zwischen den 
beiden strittige venezianische Veduten zur Genüge bewei- 
sen. So galt er denn lange auch nur als dessen Epigone —- 
man mag es als die gerechte Strafe der Geschichte für seine 
Usurpierung des Namens «Canaletto» für Marketing- 
zwecke nehmen. Doch gibt es auch andere Gründe für die 
lange Verkennung seiner Eigenart®. Bellotto trat erst aus- 
serhalb von Venedig aus dem Schatten seines Lehrers; der 
Aufenthalt in der Lombardei 1744 führte zu seiner Selbst- 
findung, deren schönstes Zeugnis die Ansichten von 
Gazzada in Mailand und Zürich sind. In der Folge wand- 
te er sich nach Deutschland: in Dresden (1747-1758 und 
1762-1766), Wien (1759/60), München (1761) und 
schliesslich in Warschau (1767 bis zu seinem Tode 1780) 
malte er in königlichem Auftrag seine grossformatigen 
Hauptwerke, und hier sind sie denn auch im wesentlichen 
verblieben und dominieren vollständig. Die Gemälde 
Canalettos hingegen fanden ihre Bewunderer vorzüglich 
in Frankreich und vor allem in England, woher ihn die 
meisten Aufträge erreichten und wohin er 1746 selbst 
reiste; so besitzen noch heute weder der Louvre noch die 
National Gallery ein Werk Bellottos. Erst mit der regen 
Reise-, Ausstellungs- und farbigen Reproduktionstätigkeit 
seit den fünfziger Jahren trat die Differenz der künstle- 
rischen Auffassung von Onkel und Neffe allgemein ins 
Bewusstsein. 
Eine zweite rezeptionsgeschichtliche Bedingung, die 
sich für Bellotto nachteilig auswirkte, ergab sich aus der 
Wahrnehmung und Charakterisierung der veneziani- 
schen Vedutenmalerei in der Polarität von Canaletto und 
Guardi, die ein Drittes, Andersartiges quasi notwendig aus 
dem Diskurs ausschloss. Bezeichnend genug der bereits 
zitierte unvergleichlich trefflich charakterisierende Text 
Hetzers, der Bellotto doch nur als negative Folie Cana- 
lettos wahrzunehmen vermag. Mit seiner Kritik an der 
weniger blühenden Farbigkeit und der allzu präzisen 
Pinselführung war er freilich bereits auf dem richtigen 
Weg - nur wäre hier nicht Unvermögen, sondern eine 
andere Auffassung zu sehen. Was bei Canaletto in einem 
glücklichen Augenblick in selbstverständlich erfülltem 
Sein zusammenklang, wird nun beim jüngeren Künstler 
zusammengezwungen und gesteigert bis zum Punkt, wo 
eine überklare Natürlichkeit die Spannungen zwischen 
Erscheinung, Wahrnehmung und Wiedergabe eben gerade 
noch aushält. 
Nicht von ungefähr tritt bei Bellotto die Farbe hinter 
den ungleich entschiedeneren Helldunkel-Kontrasten 
zurück, denen schon durch ihr Mathematisch-Konstruier- 
bares etwas Analytisches eignet. So gibt es tatsächlich 
Ansichten, die einen fiktiven Sonnenschein von Norden 
zeigen”; und auch bei den Ruinen der Kreuzkirche treten die 
Parameter auseinander: bei genau von Ost nach West 
gerichtetem Blick entspricht der Schattenwurf dem späte- 
ren Vormittag, doch seine Länge und die rosa Verfärbung 
der Atmosphäre deuten auf den Abend. Das harte Entge- 
gensetzen von Licht- und Schattenzonen, die anders als 
bei Canaletto nicht mehr atmosphärisch eingebunden 
wirken, erzeugt eine quasi abstrakte Ordnungsstruktur, 
welche sich das Gegenständliche unterwirft: so wird etwa 
der hinterste Teil der diagonalen Häuserflucht durch den
	        
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