Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

näher und machen sich mit einem neuen Realismus gel- 
tend. Auch dafür bietet unser Bild bestes Anschauungs- 
material: vorn und in der Belle-Etage komplimentierende 
Höflinge und disputierender Klerus, sodann reichlich 
gaffende Bürger und Volk, vor allem aber die Bauhand- 
werker, die Steinmetzen rechts und die Fundamentarbei- 
ter links, in der Mitte vor der Bauhütte wohl der leitende 
Stadtbaumeister Johann Georg Schmid mit einem Polier, 
auf dem Turm selbst der Maurergeselle Künzelmann, der 
mit dem Zimmermann Stephan mittels einer speziell kon- 
struierten einholmigen Leiter am 2. Juli auf die Ruine klet- 
;erte und gegen eine Entschädigung von fünfzig Thalern 
- was zwanzig Wochenlöhnen entsprach - den Abbruch 
eförderte. Drei Tage später soll übrigens auch Bellotto 
auf den Turm gestiegen sein, um sein Objekt aus unmit- 
telbarer Nähe zu studieren. Ameisengleich wirken Hilfs- 
kräfte in dem Schuttkegel, und wie 1945 schleppten schon 
damals «Trümmerfrauen» mit Hutten den Abraum weg. 
Dahinter bildet schliesslich die besonders trostlos wir- 
kende Brandruine der Kreuzschule eine düstere Folie?®. 
Damit nähern wir uns wieder dem durchaus unge- 
wöhnlichen Charakter des Gemäldes; es ist ohne Zweifel 
die dramatischste Darstellung einer durch Kriegseinwir- 
kung entstandenen Ruine der älteren Kunst. Nicht in auf- 
wendig gemalten Veduten, sondern allenfalls in meist 
schlechten Kupferstichen, zeitungshaft rapportierender 
Gebrauchsgraphik, wurde solch Unerfreuliches, Ruhmlo- 
ses abgebildet. Man hat in Bellottos grossen Stadtansich- 
ten eine neue Form der Darstellung des «buon governo», 
der «Guten Regierung», wie sie in allegorischer und reali- 
stischer Form seit Lorenzettis Fresken im Palazzo Publico 
in Siena vorkam, erkennen wollen!’: nicht mehr im rhe- 
torischen Schwulst barocker Allegorik wollten die aufge- 
klärten Herrscher die Früchte ihres Tuns sehen, sondern 
in der unmittelbaren Tatsächlichkeit volks- und gewerbe- 
reicher Städte mit eleganten Neubauten, wohlangelegter 
und trutziger Befestigungsanlagen, prächtiger Lustschlös- 
ser wie Schönbrunn, Nymphenburg oder des Dresdener 
Zwingers, 
Und nun dies: eine spektakuläre Ruine, ein frontaler, 
gespaltener Turm mit offenen Eingeweiden. Und so 
Mmonumental ragt er zum oberen Bildrand über dem 
Schuttkegel seiner eingestürzten Hälfte auf, dass das von 
unausweichlicher Objektivität getragene Pathos dem 
Gemälde eine bezwingende expressive Qualität, ja den 
Charakter einer «allegorie reelle» verleiht!®. Es wird zum 
Bild des Ruins des sächsischen Staates im Fiasko des Sie- 
venjährigen Krieges, zum Mahnmal für die Zerstörung 
der Städte überhaupt, deren Darstellung Bellotto sein 
Leben gewidmet hatte. Die volle Schärfe dieses kühlen 
und zugleich visionären Realismus tritt aber erst in der kri- 
tischen Differenz zu den damals beliebten Ruinenbildern 
hervor, die zunächst nostalgisch Grösse und Vergänglich- 
keit Roms evozierten und bald zu einem dekorativen 
Genre verkamen: dieser Beliebigkeit wird hier die brutale 
Wirklichkeit ohne arkadische Hirten und Schäferinnen, 
sondern mit hartem Alltagsleben entgegengesetzt. 
Dass das Leben auch in den Ruinen weitergeht und das 
Zerstörte wieder aufgebaut wird, wenn auch mit Schwie- 
rigkeiten und Rückfällen, wird allerdings gleichfalls 
gezeigt. So müssen für die Zeitgenossen wohl besagter 
Künzelmann und seine Gesellen die heimlichen «Hel- 
den» des Bildes gewesen sein, deren Heldentat ironischer- 
weise in mutig-zweckmässiger Abbrucharbeit bestand. 
Und diese Aspekte standen wohl im Vordergrund, als das 
Gemälde in der ersten Ausstellung der nach dem Frie- 
densschluss von Hubertusburg gegründeten Akademie 
gezeigt wurde: denn hier sieht man, wie von Kunst gelei- 
tet der Gewerbefleiss die Ruinen überwindet - und genau 
dies war der Zweck des neuen Institutes, in dem Bellotto 
Perspektive unterrichtete. «Aus Mitleid» kaufte der Hof 
das Gemälde für 200 Thaler dem verschuldeten Maler für 
die berühmte Galerie ab; als einziges wird es in deren 
Katalog aus dem gleichen Jahr erwähnt, und tatsächlich 
scheint es dort bis um 1830 seine Kunst allein vertreten 
zu haben. Auch das Professorengehalt erhielt er als einzi- 
ger aus der Hofschatulle; mit 600 Thalern war es unter den 
höchsten und doch nur noch ein Drittel des einstigen 
Salärs des Hofmalers. So widmete Bellotto die Radierung 
nach dem Gemälde der Witwe Augusts III., während das 
Gegenstück mit den Ruinen der Pirnaer Vorstadt vom 
Prinz-Administrator Xaver, der die Regierung für seinen 
minderjährigen Neffen führte, erworben wurde. 
Doch die wirtschaftliche Situation des Malers blieb bei 
seinem Aufwand in dem verarmten Dresden unhaltbar, 
und da auch sein Professorengehalt auf drei Jahre befristet
	        
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