Volltext: Jahresbericht 1994 (1994)

ihren Geliebten im Jenseits vermutet, will sıe sich umbrin- 
gen, doch dieser verhindert es und lässt sie die Versöhnung 
mit Venus suchen, indem er sie ihrer Rache aussetzt: Wie- 
der werden Grenzen überschritten, die für die Sterblichen 
den Tod bedeuten. Die Prüfungen, die Psyche nun aufer- 
legt werden, verweisen zunehmend auf das Totenreich bis 
zur letzten, die direkt zur Fürstin des Hades führen soll. 
Da sie nicht anders als durch den Tod dahin zu gelangen 
weiss, will sie sich von einem Turm stürzen. Doch dieser, 
plötzlich sprachbegabt, belehrt sie eines besseren Weges, 
der ihr bei sorgfältiger Vermeidung zahlreicher Fallstricke 
eine heile Wiederkunft ermöglicht. Wie wir bereits sahen, 
gelang dies, doch kaum zurückgekehrt, sinkt sie durch 
Proserpinas Schönheitssalbe in einen Todesschlaf, aus 
dem sie durch Amor in den Olymp entrückt wird; eine 
Form der Apotheose, die schon seit eh’ als Tod und Ver- 
klärung von Götterlieblingen verstanden wurde. 
Nun werden im Mythos zwar öfters die Grenzen zwi- 
schen Leben und Tod überschritten, man denke etwa an 
Odysseus’ Schattenbeschwörung, an Orpheus und Eury- 
dike oder an Herakles und Alkestis, doch bleiben dies ver- 
einzelte und letztlich meist erfolglose Heldentaten, von 
denen sich das schwerelose Gleiten der Psyche durch die 
Sphären vollständig abhebt. Sie ist auch gar keine Heldin, 
sondern eine Person gewordene Idee - eben Psyche, was 
zunächst nichts anderes ist als das griechische Wort für 
«Seele» und zugleich für «Schmetterling». Dass auch bei 
Amor eine im griechischen Götterhimmel sonst nicht 
übliche begriffliche Identität von Figur und ihrer Wir- 
kungsmacht, hier also der Liebe, herrscht, machte das Paar 
im 18. Jahrhundert schon aus rein dichtungstheoretischen 
Prinzipien attraktiv: man wollte von den aus Attributen 
rein verstandesmässig zusammengeklebten allegorischen 
Figuren ohne eigenes Leben wegkommen und Symbole 
verwenden, die in sich selbst sinnvoll und lebendig sind 
und zugleich allgemeinere Bedeutungen aufscheinen las- 
sen. Obwohl Psyche also eine menschliche Person ist, eig- 
net ihr als «Seele» doch ein lockereres Verhältnis zum Tod, 
denn sie ist der sterblichen Welt nicht wie der Leib verfal- 
len, sondern nach weitverbreitetem, vor allem von Platon 
in seinem Phaidon vertretenem Glauben unsterblich. 
In der Spätantike hat das Christentum diese platoni- 
schen Ideen aufgegriffen und mit Vorstellungen von der 
Wiederauferstehung des Fleisches und dem Jüngsten Ge- 
richt mit seiner Trennung der Guten und Bösen vereint. 
Die sich daraus ergebenden Widersprüche wurden in der 
Scholastik zu einem System zusammengeschweisst, das uns 
mit seinen tiefgreifenden Folgen religionspsychologischer 
und weltlicher Art letztes Jahr in der Ausstellung «Himmel, 
Hölle, Fegefeuer» plastisch vor Augen geführt wurde®. Im 
Spätmittelalter und Barock spitzte sich der Glaube auf ein 
Individualgericht in der Stunde des Todes zu, das über das 
ewige Schicksal entscheidet. Diese Kluft trennt das Dies- 
seits vom Jenseits und nur über die Fürbitte bei Christus 
und den Heiligen besteht für die Lebenden die Möglich- 
keit einer Einwirkung auf das Schicksal der Seelen im Jen- 
seits, deren einziges Ziel die seligmachende Schau Gottes 
ist. Der Tod hat so einen doppelten Aspekt: einerseits bil- 
det er die Schwelle aus der Nichtigkeit des Diesseits, aus 
dem Jammertal der Erde in die Eigentlichkeit des ewigen 
Reiches Gottes, andererseits enthüllt er die Schrecken des 
Jüngsten Gerichtes. Dass man wohlvorbereitet vor dieses 
tritt — und nicht etwa im Stand ungebüsster Sünden, ist 
die stete Sorge der christlichen Seele, die deshalb durch 
das Bild des Todes ständig und drastisch an die Vergäng 
lichkeit des Diesseits gemahnt werden muss. 
Mit der Aufklärung nun begannen sich diese Vorstel- 
lungen zu verschieben®. Während die neuzeitlichen Ent- 
deckungen und der Rationalismus in gebildeten Kreisen 
oft zu einem Deismus führten, der nur noch einen Schöp- 
fergott, nicht aber die orthodoxe Lehre von Sündenfall 
und Erlösung durch Christus vertrat, blieben andere 
Ideen, wie die Unsterblichkeit der Seele, durchaus gültig 
und im Einklang mit der Überzeugung, in der besten aller 
möglichen Welten zu leben, wie sie ein notwendig all- 
gütiger Gott nicht anders gewollt und erschaffen haben 
muss. Dass Seelen ewiger Verdammnis anheimfallen, kann 
in einem solchen Heilsplan keinen Platz haben; folge- 
richtig entfallen mit den Schrecken des Gerichtes auch die 
des Todes. Das entleerte Jenseits wird mit den Vorstellun- 
gen eines in Empfindsamkeit und Pietismus gefühlsmäs- 
sig intensivierten Diesseits erfüllt; insbesondere beginnt 
sich der früher nur selten als heidnisch-antik oder gar zau- 
berisch-dämonisch geäusserte Wunschgedanke allgemein 
durchzusetzen, dass man seine Freunde und Verwandten, 
seine Kinder und seinen Gatten wieder als Individuen
	        
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