Dass eine solch glättende, verharmlosende Sicht der
Dinge Füssli nicht befriedigen konnte, sondern seine
unbezähmbare Widerspruchslust herausfordern musste,
versteht sich fast von selbst. Als bei seinem Zürcher Auf-
enthalt im Winter 1778/79 sein alter Bekannter Schinz
zwei Szenen aus dem Märchen von Amor und Psyche
bestellte, wird dieser wohl schwerlich an die kaum je dar-
gestellte Episode, wie Psyche an den Parzen vorbeieilt,
gedacht haben: statt der üblichen Lieblichkeit erfindet
Füssli eine Szene, die eher an Macbeth und die Hexen
erinnert?. Schon aus dem berühmten antiken Fresko mit
dem Verkauf von Eroten, das Vien u.a. zu einer galanten
Genreszene aus dem Geist des Rokokos in klassizisti-
schem Gewand machten, wusste der «painter ordinary to
the devil» das Dämonisch-Hexenhafte herauszukehren?',
wie es übrigens auch in Apuleius’ Goldenem Esel in oft kras-
ser Weise zur Geltung kommt. Bereits in einer Jugend-
zeichnung, die Amors nächtlichen Besuch bei Psyche
zeigt? stellt Füssli diesen nicht wie üblich als zierlichen
Jüngling, sondern als mächtigen Dämon dar; und in glei-
cher Weise stürmt er in gewaltsamem Sturzflug auf die
ohnmächtige Psyche nieder in einer Zeichnung, die kurz
vor dem Gemälde entstanden sein dürfte”.
Nun müsste eigentlich folgen, was Canovas welt-
berühmte Gruppe zeigt?: wie Amor seine Geliebte — sei
es mit einem kleinen Stich eines seiner Pfeile, sei es mit
zinem Kuss - auferweckt. Doch statt dessen sitzt der Gott
auf der Erde und hält die nach allen Anzeichen tote Psy-
che in seinem Schoss: ratlos betrachtet er die leblos hän-
gende Gestalt, deren von dem korallenroten Armband
pikant akzentuierte Leichenblässe auffällig von seinem
ajgenen merkwürdig düster blutleeren, grau-grünen Inkar-
nat absticht. Noch weniger mit dem holden rosigen Kna-
ben stimmen seine riesigen, tiefschwarzen Flügel überein.
Was heute nur als eine stilistische Eigentümlichkeit Füsslis
erscheinen mag, muss den Zeitgenossen als höchst signi-
fikante Abweichung von der üblichen Ikonographie
erschienen sein. Den neuen Vorstellungen vom Sterben
entsprach die herkömmliche Darstellung des Todes als
Knochenmann nicht mehr; was an die Stelle dieser furcht-
erregenden und abgeschmackten Gestalt zu treten hatte,
beschrieb Lessing in «Wie die Alten den Tod gebildet»:
ein Jüngling, Bruder des Schlafes, Eros zum Verwechseln
ähnlich, nur dass seine Fittiche nicht hell, sondern dunkel
sind und er die Fackel, die jener zur Liebeglut hochhält,
zum Erlöschen niedersenkt?. Dem Verwischen der Gren-
ze von Tod und Leben, der Erotisierung des Jenseits durch
die Fortdauer individueller Liebesbanden entsprach die
Annäherung von Eros und Thanatos bis zur Einheit im
Begriff des «Genius», der die Seele ins Jenseits geleitet, wie
es auf zahllosen klassizistischen Grabmälern zu sehen ist.
Wäre es also denkbar, dass hier Füssli nicht nur Psyche
als durchaus tot, sondern auch statt des Genius der Liebe
den des Todes darstellt und damit die Aussage des Mode-
themas seiner Zeit in dessen Gegenteil verkehrt? Dies
scheint uns tatsächlich eine Möglichkeit zu sein, wenn wir
Füsslis geistige Haltung bedenken. Schon durch seine
Ausbildung zum reformierten Prädikanten wurde er von
der orthodoxen Lehre der Erbsünde und deren pauli-
nischem «Der Tod ist der Sünde Sold» (Römer 6,23)
geprägt, das letztlich mit dem neuplatonischen Dualis-
mus von Leib und Seele unvereinbar bleibt?®. Und bei all
seiner Distanzierung vom kirchlichen Christentum blieb
er von der Realität der Macht des Bösen überzeugt. Von
Klopstocks Messzas, dessen Thema die Erlösung der See-
len ist und der ganz von der neuen Auffassung bestimmi
wird28, wandte sich Füssli ab, nachdem er aus dem Kreis
um Bodmer getreten war, und wählte Miltons Paradise
Lost mit seiner Betonung der Verdammung und der nega-
tiven Verherrlichung Satans zum bevorzugten Gegen-
stand seiner Kunst.
Vor diesem Hintergrund wird die Wahl der Bildform
der Pieta erst voll verständlich, denn in der Erzählung des
Apuleius findet sie keinen Anhaltspunkt. Vielmehr ändert
Füssli deren Entwicklung und spricht seine Auffassung
durch den Rückgriff auf die inhaltlich traditionell gepräg
te Figurengruppe aus. Nach christlich orthodoxem Glau-
ben ist der vom Kreuz abgenommene Jesus auf dem
Schoss Mariae tatsächlich tot — so tot, wie er in Holbeins
Bild seiner Leiche im Grabe erscheint. Nur durch dieses
vollständige Opfer kann der Tod überwunden und das
Wunder der Auferstehung möglich werden. Indem Füsslı
nun die euphemistisch leichtfüssige «Auferstehungs»-
Szene aus dem neuplatonischen Märchen durch die Pseu-
domorphose der Pietä der Ernsthaftigkeit des christlichen
Todesverständnisses aussetzt, lässt er die Fragwürdigkeit