Full text: Jahresbericht 1995 (1995)

Bruce Naumann 
Die Neonskulptur von Bruce Nauman «One Hundred 
Live and Die» (1984) gab in dieser umfassendsten Einzel- 
ausstellung des Künstlers in Europa das Mass und die 
Weite des Untersuchungsfeldes seiner Kunst an: alles, 
was den Menschen zwischen Geburt und Tod bewegt, 
Bedürfnisse, Gefühle, Leidenschaften — die totale «con- 
dition humaine». 
Die Ausstellung enthielt Werke von 1965 bis 1994, 
Skulpturen, Zeichnungen, erweitert um die Medien 
Wort, Text, Neon, Hologramm, Film, Video, Environ- 
ment, Ton. Alle Ausdrucksformen nutzt Naumannn 
radikal, um Verhaltensformen in Kunst als Prozess zu 
transformieren, die dem Betrachter Zeit des Erlebens 
abfordert. 
Die Ausstellung war als Crescendo aufgebaut, aus- 
gehend von den frühen Skulpturen und Videos, die in 
Auseinandersetzung mit dem Körper, der eigenen 
Körpererfahrung und ihrer Dehnung in Extremsitua- 
tionen entstehen. Sie setzte sich fort mit den «Perfor- 
mance»-Korridoren für Besucher, der so zum Mitbetet- 
ligten, zum Betroffenen, zum Überwachten wird. 
Besonders eindrücklich war die Begegnung mit den hän- 
genden Skulpturen aus brüchigen Materialien, Modellen 
für noch grössere, teils unterirdische Anlagen, die auf 
Augenhöhe gehängt sind, vor das Gesicht des Betracht- 
ers, um sein traditionelles Raumgefühl vor Sockel- oder 
Bodenskulpturen zu verunsichern. Die Videoinstallation 
«Clown Torture», hängende, neuzusammengesetzte Tier- 
leiber und Köpfe, ein beängstigender Gefängniskäfig 
und die letzte Videoarbeit «Stoss in Auge/Nase/Ohr» 
bildeten das alle Sinne fordernde Finale. 
Bruce Nauman (1941 in Fort Wayne, Indiana, gebo- 
ren; lebt in Galisteo, New Mexico) gilt zu Recht als einer 
der einflussreichsten Künstler von heute. Verletzlich und 
engagiert gibt er stets intensiv und klar seiner Eros/Tha- 
natos-Obsession Form, den grossen Themen der Kunst, 
den grundlegenden Tatsachen menschlicher Existenz: 
Leben und Tod, Liebe, Sex und Hass, Lust und Schmerz, 
Glauben und Zweifel. 
Die vom Walker Art Center in Minneapolis und dem 
Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washing- 
ton vorbereitete, vor Zürich in Madrid, Minneapolis, 
Los Angeles, Washington und New York gezeigte Retro- 
spektive wurde für das Kunsthaus neukonzipiert und um 
22 Werke erweitert. 
Unsere Ausstellung wurde unterstützt durch den 
Migros-Genossenschaftsbund und die Genossenschaft 
Migros Zürich im Rahmen des «Migros-Kulturprozents». 
die Tournee durch die Lannan Foundation, Los Angeles, 
The Bohen Foundation, das National Endowment for 
the Arts und The Andy Warhol Foundation for the 
Visual Arts, Inc. Hsz 
100 Jahre Kino: Ilusion<->Emotion<->Realität 
Die 7. Kunst auf der Suche nach den 6 andern 
1983 ging die Kunsthausausstellung «Der Hang zum 
Gesamtkunstwerk» von der bildenden Kunst und von 
Künstlern entwickelten gesellschaftlichen Visionen aus 
und fand von da zum Film (Gance, Syberberg). 1995. 
hundert Jahre nach der ersten öffentlichen Filmvor- 
führung in Paris durch die Gebrüder Lumiere, geht diese 
Ausstellung von der Projektion aus, die nach Parallelen in 
den statischen Künsten ruft. Das Abenteuer bestand in 
der Vereinigung von Gegensätzen. Film ist projiziertes 
Licht, verlangt nach dem Dunkel, bildende Kunst da- 
gegen nach Licht. Die Ausstellungsarchitektur bestand 
aus farbigen Häusern für die Projektion und aus Plätzen, 
Strassen, Wegen für Bild und Skulptur. Bei der Sichtung 
von über 1000 Filmen wurden Sequenzen ausgewählt 
unter dem Gesichtspunkt eines Themas, aber auch als 
Beispiel für die Handschrift des Autors, des Regisseurs. 
Solche Themenbündel, z.B. Epen, Helden/Heldinnen, 
Antihelden/-heldinnen, Tabubruch (Bunuel), Komik, 
Erzeugen von Angst (Hitchcock), Soziale Realität, Krieg, 
Propaganda, Science Fiction, Eros, Gewalt, nach inhalt- 
lichen, technischen (Kühne Kamera) oder Gattungskrite- 
rien (Musik, Tanz), wurden jeweils chronologisch mon- 
iert, so dass in nuce die Filmgeschichte in jedem Thema 
enthalten war. Medienspezifische Themen wie Text, Licht, 
Autoren oder der Experimentalfilm erhielten ebenfalls 
ihren Vorführort. Mit 263 Filmausschnitten, mehrheitlich 
in Videogrossprojektion, konnte der Besucher konzen-
	        
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