Bruce Naumann
Die Neonskulptur von Bruce Nauman «One Hundred
Live and Die» (1984) gab in dieser umfassendsten Einzel-
ausstellung des Künstlers in Europa das Mass und die
Weite des Untersuchungsfeldes seiner Kunst an: alles,
was den Menschen zwischen Geburt und Tod bewegt,
Bedürfnisse, Gefühle, Leidenschaften — die totale «con-
dition humaine».
Die Ausstellung enthielt Werke von 1965 bis 1994,
Skulpturen, Zeichnungen, erweitert um die Medien
Wort, Text, Neon, Hologramm, Film, Video, Environ-
ment, Ton. Alle Ausdrucksformen nutzt Naumannn
radikal, um Verhaltensformen in Kunst als Prozess zu
transformieren, die dem Betrachter Zeit des Erlebens
abfordert.
Die Ausstellung war als Crescendo aufgebaut, aus-
gehend von den frühen Skulpturen und Videos, die in
Auseinandersetzung mit dem Körper, der eigenen
Körpererfahrung und ihrer Dehnung in Extremsitua-
tionen entstehen. Sie setzte sich fort mit den «Perfor-
mance»-Korridoren für Besucher, der so zum Mitbetet-
ligten, zum Betroffenen, zum Überwachten wird.
Besonders eindrücklich war die Begegnung mit den hän-
genden Skulpturen aus brüchigen Materialien, Modellen
für noch grössere, teils unterirdische Anlagen, die auf
Augenhöhe gehängt sind, vor das Gesicht des Betracht-
ers, um sein traditionelles Raumgefühl vor Sockel- oder
Bodenskulpturen zu verunsichern. Die Videoinstallation
«Clown Torture», hängende, neuzusammengesetzte Tier-
leiber und Köpfe, ein beängstigender Gefängniskäfig
und die letzte Videoarbeit «Stoss in Auge/Nase/Ohr»
bildeten das alle Sinne fordernde Finale.
Bruce Nauman (1941 in Fort Wayne, Indiana, gebo-
ren; lebt in Galisteo, New Mexico) gilt zu Recht als einer
der einflussreichsten Künstler von heute. Verletzlich und
engagiert gibt er stets intensiv und klar seiner Eros/Tha-
natos-Obsession Form, den grossen Themen der Kunst,
den grundlegenden Tatsachen menschlicher Existenz:
Leben und Tod, Liebe, Sex und Hass, Lust und Schmerz,
Glauben und Zweifel.
Die vom Walker Art Center in Minneapolis und dem
Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washing-
ton vorbereitete, vor Zürich in Madrid, Minneapolis,
Los Angeles, Washington und New York gezeigte Retro-
spektive wurde für das Kunsthaus neukonzipiert und um
22 Werke erweitert.
Unsere Ausstellung wurde unterstützt durch den
Migros-Genossenschaftsbund und die Genossenschaft
Migros Zürich im Rahmen des «Migros-Kulturprozents».
die Tournee durch die Lannan Foundation, Los Angeles,
The Bohen Foundation, das National Endowment for
the Arts und The Andy Warhol Foundation for the
Visual Arts, Inc. Hsz
100 Jahre Kino: Ilusion<->Emotion<->Realität
Die 7. Kunst auf der Suche nach den 6 andern
1983 ging die Kunsthausausstellung «Der Hang zum
Gesamtkunstwerk» von der bildenden Kunst und von
Künstlern entwickelten gesellschaftlichen Visionen aus
und fand von da zum Film (Gance, Syberberg). 1995.
hundert Jahre nach der ersten öffentlichen Filmvor-
führung in Paris durch die Gebrüder Lumiere, geht diese
Ausstellung von der Projektion aus, die nach Parallelen in
den statischen Künsten ruft. Das Abenteuer bestand in
der Vereinigung von Gegensätzen. Film ist projiziertes
Licht, verlangt nach dem Dunkel, bildende Kunst da-
gegen nach Licht. Die Ausstellungsarchitektur bestand
aus farbigen Häusern für die Projektion und aus Plätzen,
Strassen, Wegen für Bild und Skulptur. Bei der Sichtung
von über 1000 Filmen wurden Sequenzen ausgewählt
unter dem Gesichtspunkt eines Themas, aber auch als
Beispiel für die Handschrift des Autors, des Regisseurs.
Solche Themenbündel, z.B. Epen, Helden/Heldinnen,
Antihelden/-heldinnen, Tabubruch (Bunuel), Komik,
Erzeugen von Angst (Hitchcock), Soziale Realität, Krieg,
Propaganda, Science Fiction, Eros, Gewalt, nach inhalt-
lichen, technischen (Kühne Kamera) oder Gattungskrite-
rien (Musik, Tanz), wurden jeweils chronologisch mon-
iert, so dass in nuce die Filmgeschichte in jedem Thema
enthalten war. Medienspezifische Themen wie Text, Licht,
Autoren oder der Experimentalfilm erhielten ebenfalls
ihren Vorführort. Mit 263 Filmausschnitten, mehrheitlich
in Videogrossprojektion, konnte der Besucher konzen-