und Farbkompositionen schwankenden Gemälden in
ihrer ganzen Schärfe. Die vom Engländer evozierten
unendlichen Räume weichen der reine Sinnesdaten lie-
fernden Fläche, wie es den primären Reizen der Retina
entspricht. Die Blockierung der Tiefe beginnt mit den
Heuhaufen und erreicht in den frontalen, bildfüllenden
Fassaden der Kathedrale von Rouen ihren Höhepunkt. In
den Londoner Serien gewinnt die Atmosphäre gegenüber
den im Gegenlicht zu Schatten reduzierten Dingen eine
solche Dominanz, dass diese nur mehr als Reflexe oder
Brechungen auf der aus dem Nebel geschnittenen Bild-
fläche erscheinen. Monet fndet so eine Möglichkeit, dem
von den Nabis um 1890 wieder ins Bewusstsein gerückten
«dekorativen» Charakter der Malerei als einer Anordnung
von Farben und Formen auf einer Fläche zu genügen und
zugleich die. ältere Auffassung der Kunst als Abbildung
der Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Bei aller Abneigung
gegen theoretische Bestimmungen liess ihn seine Intui-
tion in diese Zwischenbereiche der schimmernden Nebel-
wände und spiegelnden Teiche eindringen, in denen die
künstlerische Intensität seiner reinen Malerei als spontan
überzeugendes Äquivalent der in der Fülle ihrer Tatsäch-
lichkeit leuchtenden Wirklichkeit gesehen werden kann.
Wie wichtig die Erfahrungen und Errungenschaften der
Londoner Bilder für die Seerosen wurden, verdeutlicht
in kaum zu übertreffender Weise das Nebeneinander
von Parlement, coucher de soleil und Le bassın aux nympheas,
le soir an unseren beiden Monet-Wänden.
Am Ende eines halben Jahrtausends der Suche nach
der richtigen Wiedergabe der sichtbaren Wirklichkeit in
der Malerei bleibt hier als Äusserstes der farbige Abglanz
in seiner strahlenden Reinheit. Doch diese Ästhetik des
Verschwindens mit ihrer Poesie des Nostalgischen hat
zugleich das Ursprüngliche und Frische des ersten Blicks.
Vielleicht erfasst das Zitat, das de Chirico aus Schopen-
hauers Parerga und Paralipomena gezogen und auf die
Kunst angewendet wissen will, dieses zugleich Rätselhafte
und Selbstverständliche des Ineinander von absoluter
Kunst und reiner Anschauung im Spätwerk von Monet
am schlichtesten: «Um auf einmalige, aussergewöhnliche
und vielleicht unsterbliche Gedanken zu kommen, muss
man nichts anderes tun, als sich für wenige Augenblicke
so vollständig von der Welt zurückziehen, dass die geläu-
figsten Ereignisse neu und unerhört zu seın scheinen und
in dieser Weise ihr wahres Wesen offenbaren.»!!
Christian Klemm
Anmerkungen
Dazu der Katalog mit besseren Farbabbildungen: Schenkung Walter Haefner.
Kunsthaus Zürich (Zürich 1995), ferner oben S.5, 11f.
Wassily Kandinsky: Rückblick (*1913, ?Baden-Baden 1955) Im Hinblick auf
den Durchbruch zur abstrakten Kunst und deren theoretischer Begründung
für seine erste Monographie von Herwarth Walden verfasst.
Dazu trefflich Robert Suckale: Claude Monet. Die Kathedrale von Rouen
(München 1981, 16 Farbabb.).
Dazu - einem Topos dieser Jahre - und zu zeitgenössischen physiologischen
Wahrnehmungstheorien s. Charles F. Stuckey: Monet’s art and the act of vi:
sion (in: Aspects of Monet [New York 1984] S. 107-121).
Nach den trefflichen Ausführungen von John House: Monet in 1890 (in:
Aspects of Monet [New York 1984] S. 122-139). Der Begriff «impression»
beinhaltet in der bereits vor den Impressionisten üblichen Ateliersprache die
Vorstellung einer raschen, vor der Natur gemalten Skizze unfertigen Charak
ters.
Die Fakten zu Monet in Daniel Wildenstein: Claude Monet. Biographie et
catalogue raisonne (tome IV, Lausanne 1985) London: S.10-19, 38-44,
Kat. Nr. 1521-1617, die Zürcher Waterloo Bridge Nr. 1581, Le Parlement, coucher
de soleil Nr. 1607 mit Brief 1779 und piece Justificativ 189; Venedig: S. 58-62,
74-76, Kat. Nr. 1736-1772, der Zürcher Palais Ducal vu de Saint-Georges Majeur
Nr. 1751, eines von sechs ähnlichen Bildern; ferner die ausführliche Doku:
mentation 5. 337ff.
Zu diesen zeitgeschichtlichen Hintergründen bes. Paul Hayes Tucker: Monet
in the ’90s. The series paintings (Boston 1989; = Ausst. Kat. Boston, London.
Chicago), zu den Londoner Serien bes. S. 252-267.
‘Mehrere Abbildungen bei Tucker, a.a.O., S. 232-252.
' Am ausführlichsten zu den Londoner Serien Grace Seiberling: Monet in Lon-
don (Ausst. Kat. Atlanta 1988). Monet weilte vom 15. September bis Ende
Oktober 1899, vom 11. Februar bis zum 1. April 1900 und schliesslich vom 23.
Januar bis zum 1. April 1901 in London. Wildenstein verzeichnet 41 Bilder mit
der Waterloo Bridge (W. 1555-1595), 19 Bilder des House of Parliament, die
vom St Thomas Hospital auf der South Bank aus gemalt wurden
/W. 1596-1614), und 34 Bilder gegen die Charing Cross Bridge am Nachmit-
tag, meist mit dem House of Parliament im Hintergrund (W. 1521-1554). Er
begann mit dieser Ansicht, die er bereits 1870 gemalt hatte (National Gallery
London).
' National Gallery Washington, Seiberling, a.a.O. Abb. 66. Am engsten ver-
wandt mit der Zürcher Waterloo Bridge scheint ein Gemälde in Ottawa zu sein,
'n dem die Sonne als rote Scheibe im Nebel zu sehen ist. Eine der selteneren
Ansichten der Waterloo-Bridge gegen Abend mit funkelnden Reflexen auf der
nellen Steinbrücke kann übrigens in der Stiftung Bührle besichtigt werden.
Giorgio de Chirico: Meditationen eines Malers (in: Giorgio de Chirico: Wir
Metaphysiker. Gesammelte Schriften [Berlin 1973] S.29). Über Monets Hor-
ror vor Theorie und eine interessante philosophiehistorische Parallelisierung
mit Nietzsche nebst guten Beobachtungen zur Serie der Heuhaufen s. Jean Sal-
us: Ombres des temps. Les meules de Monet (in: Dossier: Art et phe&nemenc-
logie [= La Part de Peeil, VII, 1991] S. 156-169).