EDOUARD VUILLARD,
ANNETTE ET JACQUES ROUSSEL Ä TABLE,
RUE DE LA TOUR, 1906
In dem von Marina und Willy Staehelin dem Kunsthaus
zeschenkten Bild porträtiert Vuillard die beiden Kinder
seines Nabis-Freundes Kerr-Xavier Roussel, mit dem er
von allen Nabis am engsten verbunden war und der 1893
seine Schwester Marie geheiratet hatte. Die Begegnung
der beiden im Schneideratelier seiner Mutter hatte er in
«P’Atelier ou Le Pretendant» im Jahre ihrer Heirat als ein
behutsames Eindringen des Mannes in das Reich der
Frauen dargestellt. Als Roussel nach der Scheidung seiner
Eltern häufiger bei den Vuillards in der Rue St. Honore
verkehrte, hatte sich Marie in den gutaussehenden jungen
Mann verliebt. Thadee Natanson beschrieb diese Verbin-
dung im Zusammenhang mit Roussels enger Freund-
schaft zu Vuillard: «Möeme il faut bien dire que si c’est par
zoüt que Ker Roussel a fait le choix de sa femme, une des
raisons qu’elle a toujours eue de Iui plaire, c’est qu’elle
5tait la soeur de Vuillard.»' Das aquarellhaft zart gemalte
«Verlobungsbild» gehört zu den geglücktesten Werken aus
Vuillards Nabis-Zeit. Es verrät noch nichts von den spä-
teren Schwierigkeiten in der Beziehung der beiden Ehe-
partner.
Vuillard bezieht in dieser Zeit seine Themen haupt-
sächlich aus seiner vertrauten Umgebung. Sie kreisen um
das Leben seiner engsten Familienangehörigen — die Gross-
mutter Michaud, die Mutter, der Bruder Alexandre, die
Schwester Marie - und der ihm nahestehenden Men-
schen. «Pourquoi est-ce dans les lieux familiers que l’esprit
et la sensibilite trouvent le plus de veritablement nou-
veau?» fragt er sich angesichts dieser Beschränkung in sei-
aem Tagebuch und kommt nach einigen Überlegungen
zu dem Schluss, dass das wirklich Neue rein subjektiv und
spirituell sei und dass die Seele angesichts bekannter For-
men eher einen neuen Aspekt, eine neue Idee erfindet, als
wenn sie sich von äusseren Veränderungen «neuer»
Gegenstände behindert fühlt.” Die alltäglichen Szenen des
familiären Beisammenseins werden häufig zu einer fast
sakralen Feierlichkeit gesteigert, bestimmt vom «inneren
Leben», das auch der symbolistische Dichter Maeterlinck
als Thema von der modernen Kunst gefordert hatte.
Dabei kam es Vuillard nicht darauf an, die einzelnen Per-
sonen in ihrer Individualität kenntlich zu machen. Sie
genügen sich meist in einem ruhigen Sitzen oder Stehen,
wodurch etwas Stillebenhaftes und das Gefühl von Zeit-
‚osigkeit von ihnen ausgeht.
Kinder beanspruchen seine Aufmerksamkeit zum
ersten Mal in grösserem Umfang in den monumentalen
Innenraumdekorationen «Jardins publics» von 1894.’ Als
eigentliche Protagonisten des Geschehens bilden sie mit
ihren ausgreifenden Silhouetten und ihrer tänzerischen
Bewegtheit den dynamischen Kontrapunkt zu den stati-
schen Gestalten der sitzenden und schwatzenden Frauen
und Kindermädchen, die sie in den öffentlichen Parkan-
lagen liebevoll umsorgen. Vuillard begegnet in ihnen dem
«bonheur de son enfance», das er im heimatlichen Jura
arlebt hatte und zu dem er sich nach den Worten seines
Freundes Thadee Natanson auch in Paris immer wieder
zurücksehnte. Mit den unbekümmert herumtollenden
Kindern beschwört er in den «Jardins publics» das verlo-
rene Paradies seiner Kindheit. Bei einem Versuch zur
Selbstcharakterisierung schreibt er in seinem Journal
unter «Recherche de soi-meme»: «souvenirs (surtout en-
fance)».“ Die Vorstellung von der Kindheit als verlorenem
Paradies ist ein zentrales Motiv der Romantik, insbeson-
dere bei Novalis verdichtet sich der Gedanke der golde-
nen Zeit «im Symbol der kindlichen Gestalt, die noch alle
ursprüngliche Einheit in sich trägt».” Ähnliche Vorstellun-
gen konnte Vuillard auch bei Baudelaire” und bei Scho-
penhauer entdecken, dessen «Die Welt als Wille und
Vorstellung» 1888 in der französischen Übersetzung
aerausgekommen war und in der Nabis-Zeit eifrig gelesen
und diskutiert wurde. Schopenhauer schreibt im Kapitel
«Vom Genie»: «Die Kindheit (ist) die Zeit der Unschuld
und des Glückes, das Paradies des Lebens, das verlorene
Eden, auf welches wir, unsern ganzen übrigen Lebensweg
aindurch, sehnsüchtig zurückblicken.»
Etwas davon klingt auch in den späteren Kinderpor-
träts an, die seit der Geburt von Annette 1898 zu einem