Full text: Jahresbericht 1996 (1996)

EDOUARD VUILLARD, 
ANNETTE ET JACQUES ROUSSEL Ä TABLE, 
RUE DE LA TOUR, 1906 
In dem von Marina und Willy Staehelin dem Kunsthaus 
zeschenkten Bild porträtiert Vuillard die beiden Kinder 
seines Nabis-Freundes Kerr-Xavier Roussel, mit dem er 
von allen Nabis am engsten verbunden war und der 1893 
seine Schwester Marie geheiratet hatte. Die Begegnung 
der beiden im Schneideratelier seiner Mutter hatte er in 
«P’Atelier ou Le Pretendant» im Jahre ihrer Heirat als ein 
behutsames Eindringen des Mannes in das Reich der 
Frauen dargestellt. Als Roussel nach der Scheidung seiner 
Eltern häufiger bei den Vuillards in der Rue St. Honore 
verkehrte, hatte sich Marie in den gutaussehenden jungen 
Mann verliebt. Thadee Natanson beschrieb diese Verbin- 
dung im Zusammenhang mit Roussels enger Freund- 
schaft zu Vuillard: «Möeme il faut bien dire que si c’est par 
zoüt que Ker Roussel a fait le choix de sa femme, une des 
raisons qu’elle a toujours eue de Iui plaire, c’est qu’elle 
5tait la soeur de Vuillard.»' Das aquarellhaft zart gemalte 
«Verlobungsbild» gehört zu den geglücktesten Werken aus 
Vuillards Nabis-Zeit. Es verrät noch nichts von den spä- 
teren Schwierigkeiten in der Beziehung der beiden Ehe- 
partner. 
Vuillard bezieht in dieser Zeit seine Themen haupt- 
sächlich aus seiner vertrauten Umgebung. Sie kreisen um 
das Leben seiner engsten Familienangehörigen — die Gross- 
mutter Michaud, die Mutter, der Bruder Alexandre, die 
Schwester Marie - und der ihm nahestehenden Men- 
schen. «Pourquoi est-ce dans les lieux familiers que l’esprit 
et la sensibilite trouvent le plus de veritablement nou- 
veau?» fragt er sich angesichts dieser Beschränkung in sei- 
aem Tagebuch und kommt nach einigen Überlegungen 
zu dem Schluss, dass das wirklich Neue rein subjektiv und 
spirituell sei und dass die Seele angesichts bekannter For- 
men eher einen neuen Aspekt, eine neue Idee erfindet, als 
wenn sie sich von äusseren Veränderungen «neuer» 
Gegenstände behindert fühlt.” Die alltäglichen Szenen des 
familiären Beisammenseins werden häufig zu einer fast 
sakralen Feierlichkeit gesteigert, bestimmt vom «inneren 
Leben», das auch der symbolistische Dichter Maeterlinck 
als Thema von der modernen Kunst gefordert hatte. 
Dabei kam es Vuillard nicht darauf an, die einzelnen Per- 
sonen in ihrer Individualität kenntlich zu machen. Sie 
genügen sich meist in einem ruhigen Sitzen oder Stehen, 
wodurch etwas Stillebenhaftes und das Gefühl von Zeit- 
‚osigkeit von ihnen ausgeht. 
Kinder beanspruchen seine Aufmerksamkeit zum 
ersten Mal in grösserem Umfang in den monumentalen 
Innenraumdekorationen «Jardins publics» von 1894.’ Als 
eigentliche Protagonisten des Geschehens bilden sie mit 
ihren ausgreifenden Silhouetten und ihrer tänzerischen 
Bewegtheit den dynamischen Kontrapunkt zu den stati- 
schen Gestalten der sitzenden und schwatzenden Frauen 
und Kindermädchen, die sie in den öffentlichen Parkan- 
lagen liebevoll umsorgen. Vuillard begegnet in ihnen dem 
«bonheur de son enfance», das er im heimatlichen Jura 
arlebt hatte und zu dem er sich nach den Worten seines 
Freundes Thadee Natanson auch in Paris immer wieder 
zurücksehnte. Mit den unbekümmert herumtollenden 
Kindern beschwört er in den «Jardins publics» das verlo- 
rene Paradies seiner Kindheit. Bei einem Versuch zur 
Selbstcharakterisierung schreibt er in seinem Journal 
unter «Recherche de soi-meme»: «souvenirs (surtout en- 
fance)».“ Die Vorstellung von der Kindheit als verlorenem 
Paradies ist ein zentrales Motiv der Romantik, insbeson- 
dere bei Novalis verdichtet sich der Gedanke der golde- 
nen Zeit «im Symbol der kindlichen Gestalt, die noch alle 
ursprüngliche Einheit in sich trägt».” Ähnliche Vorstellun- 
gen konnte Vuillard auch bei Baudelaire” und bei Scho- 
penhauer entdecken, dessen «Die Welt als Wille und 
Vorstellung» 1888 in der französischen Übersetzung 
aerausgekommen war und in der Nabis-Zeit eifrig gelesen 
und diskutiert wurde. Schopenhauer schreibt im Kapitel 
«Vom Genie»: «Die Kindheit (ist) die Zeit der Unschuld 
und des Glückes, das Paradies des Lebens, das verlorene 
Eden, auf welches wir, unsern ganzen übrigen Lebensweg 
aindurch, sehnsüchtig zurückblicken.» 
Etwas davon klingt auch in den späteren Kinderpor- 
träts an, die seit der Geburt von Annette 1898 zu einem
	        
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