HERMANN SCHERER
TOTENKLAGE
Es gibt Künstler, denen das grosse Hauptwerk gelingt,
die Arbeit, die die wesentlichen Aussagen ihres (Euvres
zusammenfasst und in die zwingende, unvergessliche
Gestalt giesst. Wo formale Fragen dominieren, wie bei
den Impressionisten oder Konkreten, wird man es
vergeblich suchen; eine existentielle Dimension, wie
in Hodlers «Nacht» oder Kokoschkas «Windsbraut» ist
dafür notwendig. Es ist ein grosses Glück für ein
Museum, ein solches Werk erwerben zu können; dank
der Vereinigung Zürcher Kunstfreunde und des Neffen
des Künstlers ist dies mit Hermann Scherers «Toten-
<lage» gelungen.
Die Lebenskurve Hermann Scherers (Rümmingen
1893 - Basel 1927) zeigt einen langsamen, mühseligen
Aufstieg, eine kurze, von hektischem Schaffen erfüllte
Blütezeit und einen frühen, schmerzlichen, sich über
viele Monate hinziehenden Todeskampf. In ärmlichen,
x<leinbäuerlichen Verhältnissen im unteren Kandertal
geboren, verliert der Siebenjährige seine Mutter. Die
Möglichkeit, in einer Grabstein-Werkstatt in Lörrach
eine Steinmetz-Lehre anzutreten, bedeutet einen ersten
Schritt aus der Enge. Dank seinem handwerklichen
Können findet er Arbeit auf Baustellen im nahen Basel
and als Gehilfe bei Bildhauern, für die er die Modelle
aus dem Stein schlägt: es ist das berufsspezifische
Schicksal des «Practicien», der neben dem mühsamen
Broterwerb trotz der Förderung durch den Meister kaum
zu seiner eigenen Kunst kommt. Immerhin überlebt er
in der Schweiz ungeschoren den Krieg, der ihn seiner
deutschen Heimat entfremdet. Von 1918 bis 1921 führt er
die monumentalen Brunnenfiguren Carl Burckhardts
vor dem Badischen Bahnhof aus; der regelmässige Lohn
»rmöglicht es ihm, in einem eigenen Atelier zu arbeiten,
das bald zum Treffpunkt eines kleinen Kreises progres-
siver Künstler, Architekten und Intellektueller wird. Die
Ablösung von Burckhardt, dessen aus dem Jugendstil
herausgewachsenes Werk sein eigenes Arbeiten
bestimmte, lässt nicht auf sich warten; ım Herbst 192]
zerstört er den Grossteil seiner bisherigen Produktion.
Zum selbständigen Künstler geworden, sucht Scherer
mit Macht von der dekorativen Glätte zur existentiellen
Wucht eines expressiven Stiles zu kommen. In der ersten
Phase dominieren die Vorbilder Lehmbrucks und Ro-
dins, ersterer für die vor allem durch die Graphik rezi-
pierte, leidvolle Thematik, letzterer für die erregt zerklüf-
tete plastische Gestaltung. Das Hauptwerk dieser Phase
ist der Entwurf zu einer sich unter dem Schrecken deı
Endzeit wild aufbäumenden, künstlerisch kaum bewäl-
tigten Menschengruppe; eindrücklich bleibt die dazu
gehörende grosse Figur eines Gestürzten ın der räum:
lichen Organisation ihrer Glieder, während die Suche
nach einer neuen plastischen Form in der Auflösung des
organischen Zusammenhangs auf halbem Wege stecken
bleibt.
Das ideal geglättete, in sich geschlossene Menschen
bild, wie es, wenn auch bereits modern verformt, auch
Carl Burckhardt noch pflegte, sollte aufgebrochen, zer
stört werden, um den elenden humanen Kern der unter
der zermalmenden Gewalt der schrecklichen Zeit lei
denden Kreatur sichtbar zu machen. Es ist das typische
Pathos der Kriegs- und Nachkriegszeit, der die erotisch
vitalistischen Spannungen des frühen Expressionismus
ablöste. Offensichtlich gelang dies Scherer zunächst
nicht, und so wandte er sich unter dem Eindruck deı
grossen Munch-Ausstellung im Kunsthaus Zürich deı
Malerei zu: in einem Selbstbildnis in dessen spätem Stil
sitzt er niedergeschlagen in der ihm eigenen Dumpfheit
vor seinem «Gestürzten». Noch wichtiger wurde für ihn
die Ausstellung Ernst Ludwig Kirchners im Frühsommer
1923, bei der er dem Künstler beim Einrichten in deı
Basler Kunsthalle half. Zum Dank lud ihn dieser nach
Davos ein, wo er seit 1918 lebte. Hier lernte Scherer das
Zeichnen als Ausgangspunkt aller künstlerischen Arbeit
kennen und eignete sich zeichnend und malend die
Landschaft an. Erst bei seinem zweiten Aufenthalt nach
den Weihnachtstagen führte ihn Kirchner in das Schnit: