Full text: Jahresbericht 1997 (1997)

zen von Holzfiguren direkt aus dem Stamm ein. Eine 
erste Plastik knüpft eng an ein Werk des Meisters an und 
zeigt noch gewisse Unsicherheiten, aber schon in der 
zweiten Skulptur beherrschte Scherer das neue Medium 
überraschend souverän. An seinen engsten Freund und 
künstlerischen Mitstreiter Albert Müller schreibt er: 
«Diese Art zu arbeiten verdanke ich Kirchner, er hat 
mich auf diese Dinge gebracht, sozusagen verschüttete 
Brunnen aufgedeckt.» Und diese Quelle begann nun 
in einem erstaunlichen Masse zu sprudeln: in den zwei- 
einhalb Jahren bis zum Ausbruch der tödlichen Krank- 
heit 1926 entstanden neben vielen Zeichnungen, etlichen 
Holzschnitten und den meisten Gemälden die zwei Dut- 
zend Skulpturen, die den Kern seines Werkes bilden. 
Dieser kreative Ausbruch deutet darauf hin, dass hier 
Aussagen und Gestalten zum Ausdruck drängten, die 
bisher noch keine angemessene Formensprache gefun- 
den hatten. Genau dies brachte Scherer die Begegnung 
mit Kirchner und dessen Skulpturen. Ohne Zweifel 
schuf dieser von den expressionistischen Malern das 
bedeutendste plastische Werk, das leider nur sehr frag- 
mentarisch erhalten blieb. In der 1905 in Dresden ge- 
gründeten Künstlergruppe «Die Brücke» begann Erich 
Heckel noch im gleichen Jahr aus dem Holz zu 
schnitzen, bald gefolgt von Schmidt-Rottluff, Pechstein 
und Kirchner. Auf der Suche nach dem Ursprünglichen 
und Ausdrucksmächtigen, nach «Urlauten plastischer 
Gestaltung und seelischen Ausdrucks» (Sauerlandt) in- 
spirierten sie sich an spätgotischer Plastik, an der Kunst 
Afrikas und Ozeaniens, während alles Naturalistische 
und auf der griechischen Klassik fussende Ideale radikal 
verworfen wurde. Diesen weitgespannten Quellen und 
dem unkonventionellen, von professionell erarbeiteten 
plastischen Vorstellungen unbeschwerten Charakter von 
Maler-Plastik entsprechend zeichnet eine experimentelle 
Uneinheitlichkeit sowohl die meisten Einzelwerke wie 
die Produktion als Ganzes aus. Erst die Begegnung mit 
den indischen Ajanta-Fresken führte Kirchner um 1911 
zu einer blühend schwellenden Körperlichkeit und einer 
grösseren Anzahl künstlerisch gelöster Figuren. Mit dem 
Krieg bricht diese Phase ab; nach der Niederlassung 
in Davos 1918 tritt die Ausgestaltung des Hauses mit 
geschnitzten Architekturteilen und Möbeln ganz in 
den Vordergrund; an ihr wird sich auch noch Scherer 
beteiligen. Erst 1923, unmittelbar vor der Begegnung mit 
Scherer, scheint er sich wieder der Freiplastik zugewandt 
zu haben; entsprechend seiner allgemeinen künstleri- 
schen Entwicklung und der Begegnung mit der alpinen 
Volkskunst sind die Gestalten nun grossformiger, 
schlichter und ausdruckskräftiger geworden. Auffällig ist 
eine neue Vorliebe für Zweifigurengruppen: Liebespaare, 
Mutter und Kind, und als grösstes Werk «Die Freunde»: 
Hermann Scherer und Albert Müller. 
So wie sich Kirchner merkwürdigerweise Scherer ent- 
gegen zu entwickeln scheint, zeichnet sich auch in dem 
letzten bekannten Werk Scherers vor der entscheidenden 
Begegnung eine stilistische Annäherung ab: ein Sand- 
steinrelief mit einem schreckenden Pferd, das zu einem 
nicht realisierten Projekt eines vielteiligen Fassaden- 
dekors, der einzigen plastischen Arbeit von 1923, gehört, 
weist bereits die grossformig geschlossenen und gerun- 
deten Körperformen, die Ansätze zu der kubistoid aus- 
drucksstark gebrochenen Gesichtsbildung auf. Wir sind 
zu wenig genau über die Begegnungen und die Abfolge 
der Werke dieses Jahres orientiert, um bereits hier einen 
schöpferischen Austausch feststellen zu können. Doch 
scheint Scherers Interesse damals ganz von der Malerei 
gefesselt worden zu sein. Als er aber Anfang 1924 die Ar- 
beit am Holz aufnimmt und im Frühjahr und Sommer 
bereits eine ganze Reihe meisterhafter Skulpturen ent- 
stehen, ist die plastische Gestaltung von einer fraglosen 
Sicherheit, die nach dem Höhepunkt von Fülle und for- 
maler Bewusstheit in «Mann und Weib» und «Mutter und 
Kind» bereits Züge von Routine anzunehmen droht. 
Was sich Kirchner in der Auseinandersetzung mit zahl- 
reichen Vorbildern und künstlerischen Möglichkeiten 
über Jahre erarbeitet hatte, eignet sich der Schüler mit 
dem Können des professionellen Bildhauers in Kürze 
an. Dies wird mit ein Grund für Kirchners Distanzierung 
von Scherer schon im nächsten Frühjahr gewesen sein. 
Das Arbeiten mit Messer und Beil direkt in das Holz 
entsprach Scherer sicher besonders: seine letztlich bäu- 
rische Direktheit konnte sich hier in einen dem Material 
entsprechenden Ausdruckswert umsetzen. Noch wich- 
tiger war die künstlerische Disziplinierung und Öko- 
nomie, zu der ihn der enge Umriss des Stammes zwang:
	        
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