Full text: Jahresbericht 1998 (1998)

zwischen Himmel und Abgrund; und auch hier unter- 
streicht die extreme Situation das Urzeitliche, Gewaltige, 
Unkultivierte des Geschehens. Die Wucht des Kon- 
trastes presst die Felsen und Figuren samt dem Adler 
nach vorn; vom Rand überschnitten, breitet sich das 
geometrische Gefüge ihrer Glieder wie ein Spinnetz über 
die Bildfläche. 
Archaisch urtümlich wirkt auch das Kampfge- 
schehen. Der stärkste Held, der gewaltige Herakles, 
erscheint als Mensch pygmäenhaft klein neben dem 
gefesselten Titanen, und der von Zeus geschickte Adler 
ist im Massstab nochmals eine Stufe gigantischer. Ja, es 
erscheint durchaus fraglich, ob die menschlich kleinen 
Pfeilchen dem Riesenvogel überhaupt Eindruck machen 
werden, vielmehr droht dieser mit seinen bildspren- 
genden schwarzen Schwingen das Männchen vom Fels 
in den Abgrund zu schlagen. Man fühlt sich an den 
Vogel Rok aus Tausend und eine Nacht oder gar an Der 
letzte Ritter von Heimito von Doderer erinnert, der auf 
der Suche nach dem Drachen plötzlich realisiert, dass 
dieser nichts weniger als das ganze Gebirge ist, über das 
er reitet; Böcklins einen ganzen Bergrücken einneh- 
mender Prometheus mag die Zwischenstufe gebildet 
haben. Die Übergrösse des Tieres gibt dem Bild wesent- 
lich jenes Alptraumhafte, das auch die gleichzeitig ent- 
standene berühmte Nachtmahr auszeichnet, in der sich 
gleichfalls ein quälender Unhold auf ein völlig wehrloses 
Opfer niedergelassen hat. 
Es dürfte gerade das Extreme der Situation, das 
Gewaltige, Schrecken Erregende, das räumlich und zeit- 
lich in unvorstellbare Dimensionen Ausgreifende 
gewesen sein, das Füssli zur Behandlung des Themas 
reizte. Auf den Entwurf schrieb er «@weTpOV EV *upOoO>» 
- «masslos nämlich ist das Erhabene» und verwies damit 
auf die neue Zentralkategorie des Sublimen, das die 
Schönheit der klassizistischen Regelästhetik ablöste. Zu 
den grossen Vorbildern solch ursprünglichen, dunkeln 
Dichtens gehörten die griechischen Tragiker und insbe- 
sonders der früheste, Aischylos; Füssli wird im Gegen- 
satz zu den meisten seiner Zeitgenossen dessen Tragödie 
Der gefesselte Prometheus gekannt haben, die ihm aller- 
dings nur durch den grossen Atem, die Kühnheit der 
poetischen Vision Inspirationsquelle sein konnte, denn 
die Darstellung der Befreiung folgte erst in einem wei- 
teren, nicht erhaltenen Teil des Zyklus. Überhaupt 
wurde diese, schon in den antiken Erzählungen peri- 
phere Episode in nachantiker Zeit selten dargestellt. 
Schon Herodots Erklärung, Zeus habe die Befreiung 
widerwillig zur Erhöhung des Ruhms seines Sohnes 
Herakles zugelassen, ist unübersehbar dürftig. Bei 
Aischylos erscheint sie in einem ganz anderen Horizont: 
Prometheus, der die Zukunft kennt, trotzt Zeus auch ın 
seiner Erniederung, weil er die Götterdimmerung der 
Kroniden voraussieht. Er weiss, dass das Schicksal Thetis 
3inen Sohn bestimmt hat, der seinen Vater überragen 
sollte. Und da Zeus’ Sinn nach dieser stand, wäre das 
Ende seiner Herrschaft nicht aufzuhalten gewesen - 
hätte ihn nicht Prometheus gewarnt: seine Erlösung und 
;eine Aufnahme in den Olymp ist der Dank dafür. 
Bei der weitläufigen Bildung und dem scharfen Intel- 
lekt Füsslis wird die Wahl des ungewöhnlichen Themas 
nicht nur formale Gründe gehabt haben. Die Figur des 
Prometheus führt ins Zentrum jener geistesgeschichtlich 
folgenreichen Verschiebung, die von «exzentrischen» 
englischen Vordenkern über Johann Jakob Bodmer zum 
Sturm und Drang und zur deutschen Klassik führte“ und 
in deren Kontext auch die bereits angesprochene Auf- 
wertung des Erhabenen gehört. Auf Shaftesbury zurück- 
greifend, propagierte der Zürcher in seinem Aufsatz 
«Das poetische Naturell» eine neue Auffassung vom 
Beruf des Dichters: das kunstvolle Arrangieren von Wör- 
tern nach den Regeln der Poetik genügt nicht mehr, viel- 
mehr wird das geniale Schöpfen einer neuen Welt aus 
seinem Innern gefordert. Für solches Tun nennt er Pro- 
metheus als zentrale Symbolfigur: «Ein solcher Poet ist 
ın der That ein zweyter Baumeister, ein rechter Prome- 
theus, der unter dem Jupiter arbeitet. Gleichwie der 
oberste Künstler, der Urheber der Natur, machet er ein 
Ganzes.» 
Ein Schritt weiter geht Hamann; Dichten wird ihm 
«menschlich-schöpferische Analogie zur Schöpfung der 
Welt durch das Wort, den Logos»: Auftakt zu Herders 
Verlegung des Schöpferischen in die Natur des Men- 
schen. Seine Begegnung mit Goethe in Strassburg 1770, 
die Übertragung des erhabenen Tons der Oden Klop- 
stocks durch die Dichter des Göttinger Hains aus dem
	        
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