Full text: Jahresbericht 1998 (1998)

Iranszendenten ins Immanente führen zum Sturm und 
Drang: Die Fesseln der Vernunft und des Vatergottes 
;sprengend, wollen diese jungen Männer ganz aus sich 
selbst schöpfen, in massloser Expansion des Ichs den 
Kosmos ergreifend, statt von göttlicher Inspiration von 
pantheistischer Kommunion mit der Allnatur erfüllt. 
Jetzt ist Prometheus nicht mehr «unter dem Jupiter», 
sondern der Rebell, der Revolutionär, der die alten 
Götter verachtet und eine Gegenwelt erschafft. Hier wur- 
zelt die manisch egozentrische Philosophie Fichtes, das 
Selbstverständnis des romantischen Dichters, manch 
deutsches Wähnen. Shelley wird in seinem lyrischen 
Drama Prometheus unbound (1820) die romantische Inter- 
pretation des Mythos am weitesten treiben; seine Frau, 
Tochter der hoffnungslos in Füssli verliebten Mary Woll- 
stonecraft, erfindet in Byrons Villa am Genfersee ihren 
Menschen konstruierenden Tiroler Arzt Frankenstein, or 
‘he modern Prometheus (1818). Ähnlich wie Füssli die 
antiken Pathosfiguren ihrer inneren Fülle entleert und 
zugleich ihre wirkungsorientierte Ausdrucksform steigert 
ınd damit an die Schwelle zu den «Helden» der Comic 
strips führt, pervertiert hier die alte Geschichte in die 
moderne Horrorstory über die ausser Kontrolle gera- 
:enen Erzeugnisse des menschlichen Machbarkeits- 
wahns. Das Diabolische solcher von Gott unabhängigen 
and damit gegen ihn gerichteten Schöpfungen findet in 
der christlichen Tradition in Satan und dessen gnosti- 
scher Weiterentwicklung zum Demiurgen Ausdruck. 
Füssli, «painter ordinary to the devil», wird Miltons um 
Satan kreisendem Epos Paradise lost seinen grössten 
Gemäldezyklus widmen.” 
Die berühmteste Behandlung des Stoffes ist Goethes 
Gedicht, dieses Manifest des Sturm und Drangs. Doch hat 
es Füssli gekannt? 1774 entstanden, wurde es erst 1785 
ohne Wissen des Autors publiziert - denkbar, dass in 
diesen Jahren der engen Beziehung Goethes zu Lavater 
und Zürich eine Abschrift hier zirkulierte.'® Gleichzeitig 
entdeckte er auch den Faust-Stoff, der sich schliesslich 
als geeigneteres Gefäss für den Ideenkomplex der Prome- 
theus-Dichtungen erwies. Goethes Titan ist der rebelli- 
sche Verächter der Götter, die sich kümmerlich von 
Opfern von Kindern und Bettlern nähren und denen er 
aichts verdankt: ihnen zu trotzen, erschafft er sich ein 
Menschengeschlecht, das ihm gleicht. Dass er sich damit 
versündige und der Rache des Zeus ausliefert, liegt aus- 
serhalb des Horizontes des Gedichtes. Genau diese aber 
stellt Füssli dar. Weist er damit auf die Qualen des krea- 
tiven Menschen, die im 19. Jahrhundert immer wieder 
thematisiert werden,” oder kritisiert er die Übersteige- 
rung der Idee des Schöpferischen im Sturm und Drang: 
Jedenfalls betont er in seinen Lectures, dass die Invention 
des Künstlers nicht der creatio ex nihilo Gottes zu ver- 
gleichen ist.” Das Göttliche erscheint in Form des die 
Leber zerfleischenden Adlers als überaus mächtig und 
bedrohlich. Ob die in die nächste Generation verscho- 
bene Rebellion durch Herkules gelingt, bleibt offen. Wir 
haben bei der Behandlung von Füsslis Amor und Psyche 
gesehen, wie Füssli Mythen vor dem Hintergrund der 
protestantischen Sündenlehre ins Finstere wendet.” 
Selbst wenn die Erlösung von dem rächenden Gott 
gelingen sollte, wäre die Fortsetzung nicht als Aufstieg in 
den Olymp zu denken, sondern eher wie die Szene auf 
Klingers Radierung, in welcher der schon immer prekäre 
Mythos an sein säkularisiertes, nüchternes Ende kommt: 
Befreit zwar, aber vernichtet in einem jeder Perspektive 
baren Brüten sitzt der zusammengesunkene Titan auf 
seinem Felsen, verlegen steht der rettende Heros hinter 
der Figur solchen Elends. 
Christian Klemm 
1 Beispiel für die stetige, langfristige Sammlungspolitik der Verstär- 
kung von Schwerpunkten, hier die Ergänzung der Werkgruppe Füsslis 
einerseits durch Gemälde seiner Hand (1989: Der Schwur der drei Eidge- 
nossen [Leihgabe des Kantons], 1993: Oberon träufelt Blumensaft auf die 
Augen der schlafenden Titania, 1994: Amor und Psyche), andererseits durch 
Bilder von Zeitgenossen, die seine exzentrische Stellung im Klassi- 
zismus erst deutlich machen (1987: Angelika Kauffmann, Amor und 
Psyche, 1992: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Brutus verurteilt seine 
Söhne zum Tode). 
2 Gert Schiff: Johann Heinrich Füssli, Zürich 1973, Nr. 711, Text S. 134; 
Versteigerungskatalog Christie’s, Zürich, 30. März 1998, Nr. 74 
3 Protagoras 320 ff. 
4 Die verbreiteteste antike Darstellung zeigt Prometheus mit ausge- 
streckten Armen frontal an den Felsen geschmiedet; auf dem angewin- 
kelten Knie sitzt der Adler, Herkules steht heranschreitend daneben. Sie 
dürfte auf ein verlorenes Gemälde des Parrhasios im Zeustempel im 
Olympia zurückgehen; spätrömische Sarkophagreliefs tradierten sie 
durch Mittelalter und Renaissance. Sie erscheint hier in einer Folge von 
Szenen, die die Geschichte des Prometheus in eine Allegorie vom Ent-
	        
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