ALBERT ANKER KAPPELER MILCHSUPPE -
EIN DEMOKRATISCHES HISTORIENBILD
Das zentrale Oktogon des grossen Salons, den das Kunst-
haus letztes Jahr der Kunst im jungen Bundesstaat wid-
mete, vereinte mehrere Hauptwerke dieser Epoche, die
sich mit der Situation der Schweiz angesichts der grossen
Ereignisse des europäischen Kriegsjahres 1870/71 ausein-
andersetzten.! Während Edouard Castres in den sich
vereits dem Impressionismus nähernden Studien zum
Bourbaki-Panorama ein zeitgeschichtliches Ereignis un-
mittelbar festhielt, schuf Böcklin mit seinem Kentauren-
kampf eine bahnbrechende mythopoetische Bildprägung
für das Völkerringen. Gegenüber diesen einerseits auf
den Naturalismus, andererseits auf den Symbolismus
vorausweisenden Werken hingen vier genrehafte Histo-
rienbilder Ankers in dem damals dominierenden poeti-
schen Realismus, in denen er die moralisch richtige Hal-
tung für die Schweizer angesichts der internationalen
Sıtuation in beispielhaften Episoden aufzeigen wollte.
Sicher machte sich hier seine frühe Prägung als Theolo-
giestudent geltend, der an sein Tun ethische Massstäbe
anlegte und zugleich für eine bestimmte Aussage das
sprechende Sujet und die schlagende Form finden
konnte. In seinen Genrebildern macht sich diese Orien-
tierung meist nur verhalten geltend, markanter drückt
sıe sich in den vereinzelten Historien aus. Nach zwei
religiösen Szenen, die er noch während seines Studiums
bei Gleyre malte,? behandelte er 1861 Luther im Kloster zu
Erfurt, wie er seine Gewissensqualen mit einem Ordens-
bruder bespricht: hier dürfte der abtrünnige Theologe
sein eigenes Problem behandelt haben.? Erst 1869 wen-
det er sich wieder geschichtlichen Themen zu und schuf
bis 1876, den Ereignissen folgend, die paar hier zu
behandelnden Werke.“
Den Auftakt bildete die Kappeler Milchsuppe,? die er
unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges im Pariser
Salon zeigte: eine beispielhafte, «basisdemokratisch»
friedliche Konfliktlösung zwischen zwei bereits zum
Kampf angetretenen Heeren. Mit dem Einmarsch der
Deutschen ins Elsass wurde nach der Friedensvermitt-
lung die Sorge für die Kriegsopfer für die Schweiz zur
humanitären Pflicht: Anker gestaltet in einer knappen,
beziehungsreichen Komposition, die das Historienbild
mit dem Portrait des Menschenfreunds und der Allegorie
der Caritas verbindet, Pestalozzi und die Waisenkinder in
Stans nach der blutigen Unterdrückung der Unterwalder
1798.° Die Internierung der besiegten französischen Ost-
armee unter General Bourbakis war die grösste Einzel-
aktion; der Künstler konnte im Stall eines nahen Bau-
ernhauses in Ins die Pflege erschöpfter und kranker
Soldaten studieren und in einer stimmungshaften Szene
festhalten, die dank seinem untrüglichen Gefühl für die
Balance von Nüchternheit und Mitgefühl zu einem
noch heute überzeugenden document humain wurde.‘
1876 schloss sich an diese Trilogie als Kontrapunkt zu
der kriegerisch-patriotischen Zentenarfeier der Schlacht
von Murten die Darstellung der Aufnahme der Unter-
waldner Kinder durch die Murtener Bevölkerung 1798
an: nicht mehr durch militärische Taten, sondern durch
Gute Dienste sollten sich nun die Schweizer hervortun.*
Die Botschaft dieser vier Hauptwerke wurde sogleich
erkannt, die Kompositionen berühmt und in Reproduk-
tionen verbreitet -— am frühsten und intensivsten die
Kappeler Milchsuppe, die möglicherweise auch im Hin-
blick auf die Schweizergeschichte in Bildern der Xylographi-
schen Anstalt von Buri und Jeker entstand.” Während
die drei anderen Originale alsbald in die Museen von
Zürich und Neuenburg gelangten, wurde die Versöh-
nungsszene noch im Entstehungsjahr von der Familie
Zollinger-Billeter erworben, in der sie fast ein Jahrhun-
dert verblieb. Dank der Grosszügigkeit von Frau Erica
Wipf gelangt sie nun an die Seite des Pestalozzi ins Kunst-
haus.
Die dargestellte Episode ereignete sich im ersten
schweizerischen Religionskrieg, den die Zürcher unter
Zwingli 1529 gegen die fünf Inneren Orte führten und
der ohne Schlacht in einem Friedensschluss endete.‘
Die Truppen, die wohl nicht viel Verständnis für die