Full text: Jahresbericht 1998 (1998)

ALBERT ANKER KAPPELER MILCHSUPPE - 
EIN DEMOKRATISCHES HISTORIENBILD 
Das zentrale Oktogon des grossen Salons, den das Kunst- 
haus letztes Jahr der Kunst im jungen Bundesstaat wid- 
mete, vereinte mehrere Hauptwerke dieser Epoche, die 
sich mit der Situation der Schweiz angesichts der grossen 
Ereignisse des europäischen Kriegsjahres 1870/71 ausein- 
andersetzten.! Während Edouard Castres in den sich 
vereits dem Impressionismus nähernden Studien zum 
Bourbaki-Panorama ein zeitgeschichtliches Ereignis un- 
mittelbar festhielt, schuf Böcklin mit seinem Kentauren- 
kampf eine bahnbrechende mythopoetische Bildprägung 
für das Völkerringen. Gegenüber diesen einerseits auf 
den Naturalismus, andererseits auf den Symbolismus 
vorausweisenden Werken hingen vier genrehafte Histo- 
rienbilder Ankers in dem damals dominierenden poeti- 
schen Realismus, in denen er die moralisch richtige Hal- 
tung für die Schweizer angesichts der internationalen 
Sıtuation in beispielhaften Episoden aufzeigen wollte. 
Sicher machte sich hier seine frühe Prägung als Theolo- 
giestudent geltend, der an sein Tun ethische Massstäbe 
anlegte und zugleich für eine bestimmte Aussage das 
sprechende Sujet und die schlagende Form finden 
konnte. In seinen Genrebildern macht sich diese Orien- 
tierung meist nur verhalten geltend, markanter drückt 
sıe sich in den vereinzelten Historien aus. Nach zwei 
religiösen Szenen, die er noch während seines Studiums 
bei Gleyre malte,? behandelte er 1861 Luther im Kloster zu 
Erfurt, wie er seine Gewissensqualen mit einem Ordens- 
bruder bespricht: hier dürfte der abtrünnige Theologe 
sein eigenes Problem behandelt haben.? Erst 1869 wen- 
det er sich wieder geschichtlichen Themen zu und schuf 
bis 1876, den Ereignissen folgend, die paar hier zu 
behandelnden Werke.“ 
Den Auftakt bildete die Kappeler Milchsuppe,? die er 
unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges im Pariser 
Salon zeigte: eine beispielhafte, «basisdemokratisch» 
friedliche Konfliktlösung zwischen zwei bereits zum 
Kampf angetretenen Heeren. Mit dem Einmarsch der 
Deutschen ins Elsass wurde nach der Friedensvermitt- 
lung die Sorge für die Kriegsopfer für die Schweiz zur 
humanitären Pflicht: Anker gestaltet in einer knappen, 
beziehungsreichen Komposition, die das Historienbild 
mit dem Portrait des Menschenfreunds und der Allegorie 
der Caritas verbindet, Pestalozzi und die Waisenkinder in 
Stans nach der blutigen Unterdrückung der Unterwalder 
1798.° Die Internierung der besiegten französischen Ost- 
armee unter General Bourbakis war die grösste Einzel- 
aktion; der Künstler konnte im Stall eines nahen Bau- 
ernhauses in Ins die Pflege erschöpfter und kranker 
Soldaten studieren und in einer stimmungshaften Szene 
festhalten, die dank seinem untrüglichen Gefühl für die 
Balance von Nüchternheit und Mitgefühl zu einem 
noch heute überzeugenden document humain wurde.‘ 
1876 schloss sich an diese Trilogie als Kontrapunkt zu 
der kriegerisch-patriotischen Zentenarfeier der Schlacht 
von Murten die Darstellung der Aufnahme der Unter- 
waldner Kinder durch die Murtener Bevölkerung 1798 
an: nicht mehr durch militärische Taten, sondern durch 
Gute Dienste sollten sich nun die Schweizer hervortun.* 
Die Botschaft dieser vier Hauptwerke wurde sogleich 
erkannt, die Kompositionen berühmt und in Reproduk- 
tionen verbreitet -— am frühsten und intensivsten die 
Kappeler Milchsuppe, die möglicherweise auch im Hin- 
blick auf die Schweizergeschichte in Bildern der Xylographi- 
schen Anstalt von Buri und Jeker entstand.” Während 
die drei anderen Originale alsbald in die Museen von 
Zürich und Neuenburg gelangten, wurde die Versöh- 
nungsszene noch im Entstehungsjahr von der Familie 
Zollinger-Billeter erworben, in der sie fast ein Jahrhun- 
dert verblieb. Dank der Grosszügigkeit von Frau Erica 
Wipf gelangt sie nun an die Seite des Pestalozzi ins Kunst- 
haus. 
Die dargestellte Episode ereignete sich im ersten 
schweizerischen Religionskrieg, den die Zürcher unter 
Zwingli 1529 gegen die fünf Inneren Orte führten und 
der ohne Schlacht in einem Friedensschluss endete.‘ 
Die Truppen, die wohl nicht viel Verständnis für die
	        
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