theologischen Differenzen aufbrachten, hatten keine
Lust, gegen die Streitgenossen von gestern zu kämpfen,
und so fraternisierten die Vorposten miteinander. «Und
wurden zue zytten früntlich trünck/und gespräch / von
gmeynen knechten [d.h. von gewöhnlichen Soldaten] /
beder huffen getan», wie der Luzerner Johannes Salat in
seiner 1536 abgeschlossenen Chronik schreibt. Gleich-
zeitig berichtete auf protestantischer Seite der Bubikoner
Pfarrer Johannes Stumpf, der an dem Feldzug teilge-
nommen hatte, erstmals von der Milchsuppe, zu der die
an Kornmangel leidenden Bergler die Milch, die Zürcher
das Brot beisteuerten. Da damals noch keine Kriegsbe-
richterstatter unterwegs waren und täglich die Neuig-
keiten in die Zeitung brachten, kann man kaum ein
noch näheres Zeugnis erwarten, so dass das ungewöhn-
liche Mahl eine gute Chance hat, tatsächlich stattge-
funden zu haben. Jedenfalls fand hier eine historische
Situation eine anschauliche und einprägsame Gestalt,
wie dies der Mythos erfordert. Und dies ist das Wichtige:
pausenlos geschehen und vergehen unendlich viele
Ereignisse, doch nur die wenigsten gehen ins allgemeine
Gedächtnis ein und werden dort wirksam. Anker kannte
die Episode wohl schon von zu Hause oder aus der
Schule; spätestens bei seinem Studium dürfte sie ihm in
der in die gleichen Jahre zurückreichenden Reforma-
tionsgeschichte von Bullinger begegnet sein, die 1836
im Druck erschien, aber schon seit ihrer Entstehung
bekannt war und benützt wurde. Hier findet sich, als
Bemerkung des vermittelnden Strassburger Bürgermei-
sters Jacob Sturm, der Satz, der auf dem Rahmen des
Gemäldes zu lesen ist: «Sie vergessen der alten Fründt-
schaft nit.»
Soweit die schriftlichen Quellen. Historiengemälde
pflegen aber auch in bildlichen Traditionen zu stehen.
Besonders bei religiösen Szenen kann man verfolgen,
wie sich über die Jahrhunderte ein Erfahrungsschatz auf-
baut, der den Künstlern eine Basis für ihre Interpretation
bietet. Wie bei den meisten Episoden der Schweizer
Geschichte wurde auch die Kappeler Milchsuppe erst-
mals als schlichte Illustration ohne künstlerischen
Anspruch in einer Bilderchronik dargestellt, hier von
Heinrich Thomann als kolorierte Federzeichnung in
einer Abschrift von Bullingers Reformationsgeschichte
von 1605.? Die nächsten Stationen bilden ein Zürcher
Neujahrsblatt von 1769® und, wie gleichfalls häufig, die
nun wesentlich anspruchsvollere, wenn auch störrische
und chargierte Komposition von Ludwig Vogel, über-
füllt von Einzelheiten aus antiquarischen und volks-
kundlichen Studien.* Hier findet Anker das Hinter-
grundsmotiv des friedensstiftenden Bürgermeisters, der
die vom Wirbel bis zur Zehe gerüstete Kriegsgurgel mit
dem Hinweis auf das Mahl zum Überdenken seiner
Schlachtgelüste bringt. Für die Gesamtwirkung wichtiger
aber ist das Repas champetre, ein Picknick von Landleuten
beim Heuen um einen enormen Milchbottich vor den
Musegg-Türmen, dem See und der Rigi aus Gabriel
Lorys berühmter Folge kolorierter Umriss-Radierungen
Souvenirs de la Suisse; eine Kompositionsstudie Ankers
verdeutlicht den Zusammenhang.“ Kurioserweise dürfte
Lory seinerseits zu der etwas unwahrscheinlichen Ver-
flegungsform von Johann Georg Volmars Darstellung
der Kappeler Milchsuppe von 1813 angeregt worden
sein, die er in die Schweizer Kleinmeistertradition von
Aberli und Freundenberger überträgt, wie der Untertitel
seines Blattes Costumes de Lucerne klarmacht.'®
Diese Wechselwirkung zwischen Genre und Historie
führt nicht nur zu einem näheren Verständnis des künst-
lerischen Charakters von Ankers Bild, sondern ins Zen-
trum der gattungstheoretischen Diskussionen des 19.
Jahrhunderts.” Bis zum revolutionären Umbruch sind
die beiden Bereiche streng getrennt und hierarchisch
abgestuft: ım Historiengemälde erscheint in der Regel
zın Held in einer moralischen Entscheidung oder einer
anderen Extremsituation als Tugendbeispiel. Mythos
und Geschichte fliessen wie in den Stammbäumen der
Fürsten ineinander, die Kostüme und Figuren sind einer
humanistisch verallgemeinerten Antike verpflichtet, die
Behandlung erfolgt im gehobenen Stil. Der Abbau der
Standesunterschiede, ein neues Bewusstsein für das Tief-
greifende historischer Veränderungen und die Aufwer-
‘ung der Idee der Nation lässt um 1800 eine Reihe neuer
Probleme entstehen. Die von Ancien regime und revo-
lutionärem Terror diskreditierte Antike tritt hinter
Themen aus Mittelalter und Renaissance zurück, als sich
die modernen Staaten herauszubilden begannen; der
standardisierte griechisch-römische Dekor weicht den