Full text: Jahresbericht 1998 (1998)

theologischen Differenzen aufbrachten, hatten keine 
Lust, gegen die Streitgenossen von gestern zu kämpfen, 
und so fraternisierten die Vorposten miteinander. «Und 
wurden zue zytten früntlich trünck/und gespräch / von 
gmeynen knechten [d.h. von gewöhnlichen Soldaten] / 
beder huffen getan», wie der Luzerner Johannes Salat in 
seiner 1536 abgeschlossenen Chronik schreibt. Gleich- 
zeitig berichtete auf protestantischer Seite der Bubikoner 
Pfarrer Johannes Stumpf, der an dem Feldzug teilge- 
nommen hatte, erstmals von der Milchsuppe, zu der die 
an Kornmangel leidenden Bergler die Milch, die Zürcher 
das Brot beisteuerten. Da damals noch keine Kriegsbe- 
richterstatter unterwegs waren und täglich die Neuig- 
keiten in die Zeitung brachten, kann man kaum ein 
noch näheres Zeugnis erwarten, so dass das ungewöhn- 
liche Mahl eine gute Chance hat, tatsächlich stattge- 
funden zu haben. Jedenfalls fand hier eine historische 
Situation eine anschauliche und einprägsame Gestalt, 
wie dies der Mythos erfordert. Und dies ist das Wichtige: 
pausenlos geschehen und vergehen unendlich viele 
Ereignisse, doch nur die wenigsten gehen ins allgemeine 
Gedächtnis ein und werden dort wirksam. Anker kannte 
die Episode wohl schon von zu Hause oder aus der 
Schule; spätestens bei seinem Studium dürfte sie ihm in 
der in die gleichen Jahre zurückreichenden Reforma- 
tionsgeschichte von Bullinger begegnet sein, die 1836 
im Druck erschien, aber schon seit ihrer Entstehung 
bekannt war und benützt wurde. Hier findet sich, als 
Bemerkung des vermittelnden Strassburger Bürgermei- 
sters Jacob Sturm, der Satz, der auf dem Rahmen des 
Gemäldes zu lesen ist: «Sie vergessen der alten Fründt- 
schaft nit.» 
Soweit die schriftlichen Quellen. Historiengemälde 
pflegen aber auch in bildlichen Traditionen zu stehen. 
Besonders bei religiösen Szenen kann man verfolgen, 
wie sich über die Jahrhunderte ein Erfahrungsschatz auf- 
baut, der den Künstlern eine Basis für ihre Interpretation 
bietet. Wie bei den meisten Episoden der Schweizer 
Geschichte wurde auch die Kappeler Milchsuppe erst- 
mals als schlichte Illustration ohne künstlerischen 
Anspruch in einer Bilderchronik dargestellt, hier von 
Heinrich Thomann als kolorierte Federzeichnung in 
einer Abschrift von Bullingers Reformationsgeschichte 
von 1605.? Die nächsten Stationen bilden ein Zürcher 
Neujahrsblatt von 1769® und, wie gleichfalls häufig, die 
nun wesentlich anspruchsvollere, wenn auch störrische 
und chargierte Komposition von Ludwig Vogel, über- 
füllt von Einzelheiten aus antiquarischen und volks- 
kundlichen Studien.* Hier findet Anker das Hinter- 
grundsmotiv des friedensstiftenden Bürgermeisters, der 
die vom Wirbel bis zur Zehe gerüstete Kriegsgurgel mit 
dem Hinweis auf das Mahl zum Überdenken seiner 
Schlachtgelüste bringt. Für die Gesamtwirkung wichtiger 
aber ist das Repas champetre, ein Picknick von Landleuten 
beim Heuen um einen enormen Milchbottich vor den 
Musegg-Türmen, dem See und der Rigi aus Gabriel 
Lorys berühmter Folge kolorierter Umriss-Radierungen 
Souvenirs de la Suisse; eine Kompositionsstudie Ankers 
verdeutlicht den Zusammenhang.“ Kurioserweise dürfte 
Lory seinerseits zu der etwas unwahrscheinlichen Ver- 
flegungsform von Johann Georg Volmars Darstellung 
der Kappeler Milchsuppe von 1813 angeregt worden 
sein, die er in die Schweizer Kleinmeistertradition von 
Aberli und Freundenberger überträgt, wie der Untertitel 
seines Blattes Costumes de Lucerne klarmacht.'® 
Diese Wechselwirkung zwischen Genre und Historie 
führt nicht nur zu einem näheren Verständnis des künst- 
lerischen Charakters von Ankers Bild, sondern ins Zen- 
trum der gattungstheoretischen Diskussionen des 19. 
Jahrhunderts.” Bis zum revolutionären Umbruch sind 
die beiden Bereiche streng getrennt und hierarchisch 
abgestuft: ım Historiengemälde erscheint in der Regel 
zın Held in einer moralischen Entscheidung oder einer 
anderen Extremsituation als Tugendbeispiel. Mythos 
und Geschichte fliessen wie in den Stammbäumen der 
Fürsten ineinander, die Kostüme und Figuren sind einer 
humanistisch verallgemeinerten Antike verpflichtet, die 
Behandlung erfolgt im gehobenen Stil. Der Abbau der 
Standesunterschiede, ein neues Bewusstsein für das Tief- 
greifende historischer Veränderungen und die Aufwer- 
‘ung der Idee der Nation lässt um 1800 eine Reihe neuer 
Probleme entstehen. Die von Ancien regime und revo- 
lutionärem Terror diskreditierte Antike tritt hinter 
Themen aus Mittelalter und Renaissance zurück, als sich 
die modernen Staaten herauszubilden begannen; der 
standardisierte griechisch-römische Dekor weicht den
	        
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