Full text: Jahresbericht 1998 (1998)

kostümkundlichen Resultaten der Wissenschaft. Der stile 
troubadour, der in einer reichlich fiktiven gotischen 
Ambiance Ritter bei Turnieren und Aventüren zeigt, 
erfreut sich nach 1815 allgemeiner Beliebtheit.® Doch 
die historisch-kritischen Ansprüche steigern sich parallel 
zur Geschichtsforschung und belasten die Künstler 
zunehmend. So beklagt sich auch Anker in einem Brief 
an seinen Elsässer Freund und Kollegen Francois Ehr- 
mann, welche Mühe ihm die Beschaffung der Vorlagen 
für die alten Gewänder und Waffen bereite.” Und oft 
genug bleibt vor lauter materieller Kultur die künstleri- 
sche Einheit und der geistige Gehalt auf der Strecke: 
man braucht nur Vogels Interpretation zu betrachten. 
Nach Napoleon hatte man auch für einige Zeit genug 
von grossen Heldentaten: statt der «grande histoire» 
wünschte man die «petites histoires», die Anekdoten, die 
nicht von Triumph und Tod, sondern vom Alltag, etwa 
demjenigen Henris IV, handelten. Solche Gemälde 
akzeptierte die Kritik nicht mehr als Historiengemälde, 
sondern stufte sie als «genre historique» ein. 
Dass die Schweiz trotz ihrer marginalen Stellung im 
Kunstbetrieb als Republik inmitten von Monarchien 
eine gewisse Rolle in der Umorientierung des Historien- 
bildes spielte, konnte bereits bei der Behandlung des 
Brutus von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein im Jah- 
resbericht 1992 bemerkt werden. Dessen 1781/82 in 
Zürich konzipierten und massgeblich von Bodmer und 
seinem Kreis geprägten Darstellungen von Götz von Ber- 
lichingen mit dem gefangenen Weislingen und Konradin von 
Schwaben gehören zu den Inkunablen der mittelalterlich- 
anekdotischen Szenen;? für ihre Ausstattung trieb der 
Künstler antiquarische Studien im Zürcher Zeughaus. 
Gleichzeitig steigerte Füssli im Schwaur der drei Eidgenossen 
drei Bauern als Vertreter ihres Volkes zu heroischen 
Staatsgründern. Ludwig Vogel, Mitbegründer des deutsch- 
römischen Lukasbundes, konvertierte nicht wie andere 
Nazarener zum Katholizismus, sondern wandte sich 
konsequent republikanisch-nationalen Themen zu. Von 
grossem Einfluss auf die europäische Entwicklung war 
Leopold Roberts Steigerung des italienischen Hirten- 
und Brigantengenres durch Formen und Strukturen des 
hohen Stils; als im Salon von 1831 seine Ankunft der 
Schnitter in den Pontinischen Sümpfen erschien, hiess die 
Kritik in dieser Darstellung von Landarbeitern das wahre 
Historiengemälde gegenüber der genrehaften Anekdoten 
aus der Geschichte der Fürsten willkommen.“ Als Jacob 
Burckhardt aus der von politischen Kämpfen geschüt- 
telten Schweiz in das biedermeierlich stillgelegte Berlin 
kam, vermisste er in der Kritik der Akademie-Ausstel- 
lung 1842 das öffentliche Leben, das für die Blüte der 
Historienmalerei erforderlich sei. Sein Lehrer und 
Freund Franz Kugler doppelte auf monarchistisch 
gefärbte Repliken nach: «Unsere Kunst muß jenem 
aristokratischen Element - denn ohne das würde sie frei- 
lich gleich von ihrer Höhe hinabsinken —- als nothwen- 
diges Gegengewicht ein demokratisches zugesellen. [...] 
Ja, ein demokratisches in der ganzen, kecken Bedeutung 
des Wortes!»?? 
Damit werden zwei weitere Kriterien angesprochen, 
die Hegel und Schopenhauer bereits um 1820 hervorge- 
hoben haben. Dieser wies der Historienmalerei «Lebens- 
scenen jeder Art, von großer und geringer Bedeutung» 
zu, denn «weder irgendein Individuum, noch irgendeine 
Handlung kann ohne Bedeutung sein», und somit ist 
alles Menschliche darstellungswürdig.?® Jener betonte 
die Notwendigkeit, nicht im Historisch-Antiquarischen 
zu verharren, sondern ein allgemeines gegenwärtiges 
Interesse zu erreichen. Episoden aus der Vergangenheit 
hätten dabei den Vorteil, dass ihnen die gewünschte Ver- 
allgemeinerung bereits durch die zeitliche Distanz 
eigne.?* Bedingung wäre freilich, dass der Gegenstand 
den Betrachtern bekannt wäre, doch die historische 
Volksbildung steckte damals noch in ihren Anfängen. 
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen und Dis- 
kussionen erscheint Ankers Kappeler Milchsuppe als Para- 
digma eines demokratischen Historienbildes. Abgesehen 
davon, dass die Episode in der Schweiz weiten Schichten 
geläufig war, vermag sie in ihrer mythischen Dichte 
selbst ohne Vorkenntnis Goethes kaum Je erfüllten For- 
derung zu genügen, dass eine historische Szene aus sich 
selbst verständlich sein müsse. Ohne weiteres ist zu 
sehen, dass sich hier zwei im Krieg stehende Parteien an 
der Grenze begegnen und statt mit den Schwertern, Hel- 
lebarden und Morgensternen zu kämpfen, diese auf die 
Seite legen und zum Mahl aus einer gemeinsamen 
Schüssel zusammenfinden. Wie schon Stumpf und Bul-
	        
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