MAX ERNST
MALOJA-STEINE
Während der mittleren 30er Jahre weilte Max Ernst wie-
derholt in der Schweiz. Wichtigster Bezugspunkt war
zweifellos seine Freundschaft mit Carola und Siegfried
Giedion. Im Laufe des Sommers 1934 entstand das
monumentale Wandgemälde «Petales et jardin de la
nymphe Ancolie» in der Corso-Bar in Zürich - ein von
den Giedions vermitteltes Auftragswerk - übrigens der
einzige Auftrag für ein grosses Wandgemälde, den er je
erhalten hat.
Vom 11. Oktober bis 4. November fand im Kunsthaus
eine Gruppenausstellung statt, die Werke von Hans Arp,
Max Ernst, Alberto Giacometti, Julio Gonzalez und Joan
Miro vereinigte und zu der Max Ernst unter dem Titel
«Was ist Surrealismus?» ein Vorwort verfasste. Zwei
Themen beschäftigten den Autor in diesem vergleichs-
weise kurzen Text: die durch die «&criture automatique»
des Surrealismus neu definierte Rolle des Künstlers
sowie die Feststellung, dass auch «die Plastik, augen-
scheinlich spröde jedem Automatismus gegenüberste-
hend, in die surrealistische Bewegung Eingang finden»!
musste.
Mit besonderer Vehemenz wendet sich Max Ernst
gegen das traditionelle Künstlerbild, indem er seinen
Text mit folgenden Sätzen einleitet: «Als letzter Aber-
glaube, als trauriges Reststück des Schöpfungmythus
olieb dem westlichen Kulturkreis das Märchen vom
Schöpfertum des Künstlers. Es gehört zu den ersten
‚evolutionären Akten des Surrealismus, diesen Mythus
mit sachlichen Mitteln und in schärfster Form attakiert
und wohl auf immer vernichtet zu haben, indem er auf
die rein passive Rolle des «Autors im Mechanismus der
poetischen Inspiration mit allem Nachdruck bestand
und jede «aktive» Kontrolle durch Vernunft, Moral oder
ästhetische Erwägungen als inspirationswidrig entlarvte.
Als Zuschauer kann er der Entstehung des Werkes bei-
wohnen und seine Entwicklungsphasen mit Gleichgül-
tigkeit oder Leidenschaft verfolgen. Wie der Dichter
seinen automatischen Denkvorgängen lauscht und sie
notiert, so projiziert der Maler auf Papier oder Lein-
wand, was ihm seine optische Eingebungskraft eingibt.
Aus ists natürlich mit der alten Auffassung vom «Talent,
aus auch mit der Heldenverhimmelung und mit der für
Bewunderungslüsterne willkommenen Sage von der
Fruchtbarkeit, des Künstlers, welcher heute drei Eier
legt, morgen eines, am Sonntag keines»,
Im Nachhinein mutet das Bild des eierlegenden
Künstlers beinahe wie eine visionäre Selbstironisierung
an, denn im folgenden Jahr 1935 gestaltete der Künstler
in Maloja, wo er auf Einladung der Familie von Alberto
Giacometti einen Sommerurlaub verbrachte, eine grös-
sere Reihe von Steinen, deren naturgegebene Eiform
zweifellos Ausgangspunkt ist für diese erste grössere
kohärente Gruppe dreidimensionaler Werke in Max
Ernsts Gesamtoeuvre.
In einem Brief, den er in Maloja an Carola Giedion
schreibt, stellt er fest: «Alberto und ich sind vom plasti-
schen Fieber befallen. Wir bearbeiten grosse und kleine
Granitblöcke aus den Moränen des Fornogletschers.
Durch Zeit, Eis und Wetter wunderbar abgeschliffen,
sehen sie schon an sich phantastisch schön aus. Da kann
die Menschenhand nicht mit. Warum also nicht die
grosse Arbeit den Elementen überlassen und uns be-
gnügen, runenartig unsere Geheimnisse in sie einzu:
ritzen?»?, Diese Aussage setzt in absolut konsequenter
Weise das im Vorwort der Zürcher Ausstellung ent-
wickelte neue Rollenverständnis des Künstlers fort.
Der willentliche kreative Akt, das in der Kunsttheorie
eine Generation früher analysierte «Kunstwollen»“
schien nicht länger mehr im Zentrum künstlerischen
Gestaltens. Das «titanische» Künstlerbild (in der Regel
mit Giganten wie Michelangelo oder Beethoven assozi-
iert), ist einem Künstlertypus gewichen, der sensibilisiert
auf bereits Vorgegebenes reagiert und durch - häufig
minimale - Eingriffe eine neue Realität erzeugt. Beinahe
prophetisch, wenn wir uns die eigene plastische Produk-
tion des Folgejahres vor Augen halten, ist der gegen