Full text: Jahresbericht 1998 (1998)

MAX ERNST 
MALOJA-STEINE 
Während der mittleren 30er Jahre weilte Max Ernst wie- 
derholt in der Schweiz. Wichtigster Bezugspunkt war 
zweifellos seine Freundschaft mit Carola und Siegfried 
Giedion. Im Laufe des Sommers 1934 entstand das 
monumentale Wandgemälde «Petales et jardin de la 
nymphe Ancolie» in der Corso-Bar in Zürich - ein von 
den Giedions vermitteltes Auftragswerk - übrigens der 
einzige Auftrag für ein grosses Wandgemälde, den er je 
erhalten hat. 
Vom 11. Oktober bis 4. November fand im Kunsthaus 
eine Gruppenausstellung statt, die Werke von Hans Arp, 
Max Ernst, Alberto Giacometti, Julio Gonzalez und Joan 
Miro vereinigte und zu der Max Ernst unter dem Titel 
«Was ist Surrealismus?» ein Vorwort verfasste. Zwei 
Themen beschäftigten den Autor in diesem vergleichs- 
weise kurzen Text: die durch die «&criture automatique» 
des Surrealismus neu definierte Rolle des Künstlers 
sowie die Feststellung, dass auch «die Plastik, augen- 
scheinlich spröde jedem Automatismus gegenüberste- 
hend, in die surrealistische Bewegung Eingang finden»! 
musste. 
Mit besonderer Vehemenz wendet sich Max Ernst 
gegen das traditionelle Künstlerbild, indem er seinen 
Text mit folgenden Sätzen einleitet: «Als letzter Aber- 
glaube, als trauriges Reststück des Schöpfungmythus 
olieb dem westlichen Kulturkreis das Märchen vom 
Schöpfertum des Künstlers. Es gehört zu den ersten 
‚evolutionären Akten des Surrealismus, diesen Mythus 
mit sachlichen Mitteln und in schärfster Form attakiert 
und wohl auf immer vernichtet zu haben, indem er auf 
die rein passive Rolle des «Autors im Mechanismus der 
poetischen Inspiration mit allem Nachdruck bestand 
und jede «aktive» Kontrolle durch Vernunft, Moral oder 
ästhetische Erwägungen als inspirationswidrig entlarvte. 
Als Zuschauer kann er der Entstehung des Werkes bei- 
wohnen und seine Entwicklungsphasen mit Gleichgül- 
tigkeit oder Leidenschaft verfolgen. Wie der Dichter 
seinen automatischen Denkvorgängen lauscht und sie 
notiert, so projiziert der Maler auf Papier oder Lein- 
wand, was ihm seine optische Eingebungskraft eingibt. 
Aus ists natürlich mit der alten Auffassung vom «Talent, 
aus auch mit der Heldenverhimmelung und mit der für 
Bewunderungslüsterne willkommenen Sage von der 
Fruchtbarkeit, des Künstlers, welcher heute drei Eier 
legt, morgen eines, am Sonntag keines», 
Im Nachhinein mutet das Bild des eierlegenden 
Künstlers beinahe wie eine visionäre Selbstironisierung 
an, denn im folgenden Jahr 1935 gestaltete der Künstler 
in Maloja, wo er auf Einladung der Familie von Alberto 
Giacometti einen Sommerurlaub verbrachte, eine grös- 
sere Reihe von Steinen, deren naturgegebene Eiform 
zweifellos Ausgangspunkt ist für diese erste grössere 
kohärente Gruppe dreidimensionaler Werke in Max 
Ernsts Gesamtoeuvre. 
In einem Brief, den er in Maloja an Carola Giedion 
schreibt, stellt er fest: «Alberto und ich sind vom plasti- 
schen Fieber befallen. Wir bearbeiten grosse und kleine 
Granitblöcke aus den Moränen des Fornogletschers. 
Durch Zeit, Eis und Wetter wunderbar abgeschliffen, 
sehen sie schon an sich phantastisch schön aus. Da kann 
die Menschenhand nicht mit. Warum also nicht die 
grosse Arbeit den Elementen überlassen und uns be- 
gnügen, runenartig unsere Geheimnisse in sie einzu: 
ritzen?»?, Diese Aussage setzt in absolut konsequenter 
Weise das im Vorwort der Zürcher Ausstellung ent- 
wickelte neue Rollenverständnis des Künstlers fort. 
Der willentliche kreative Akt, das in der Kunsttheorie 
eine Generation früher analysierte «Kunstwollen»“ 
schien nicht länger mehr im Zentrum künstlerischen 
Gestaltens. Das «titanische» Künstlerbild (in der Regel 
mit Giganten wie Michelangelo oder Beethoven assozi- 
iert), ist einem Künstlertypus gewichen, der sensibilisiert 
auf bereits Vorgegebenes reagiert und durch - häufig 
minimale - Eingriffe eine neue Realität erzeugt. Beinahe 
prophetisch, wenn wir uns die eigene plastische Produk- 
tion des Folgejahres vor Augen halten, ist der gegen
	        
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