Full text: Jahresbericht 1998 (1998)

Ende des Katalogtextes von 1934 eingefügte Satz: 
«Schon bestehende plastische Werke können in der sur- 
realistischen Experimentation, wie jede andere Realität, 
als poetische Elemente funktionieren...»°. Auch wenn 
Max Ernst hier primär an die Plazierung von Kunst- 
werken an ungewohnten Orten denkt, bezieht er doch - 
ahnend - jede andere Realität mit in seinen Gedanken- 
gang ein. 
Die Steinplastiken, die in Maloja entstehen, lassen 
sich in zwei Gruppen aufteilen: Kiesel, die bemalt sind 
und deren Form naturvorgegeben unverändert über- 
nommen wird, und Steine, in deren unbemalte Ober- 
fläche plastisch eingegriffen wird®. Besonders diese zweite 
Gruppe dürfte wohl von der Tätigkeit von Alberto 
Giacometti angeregt worden sein, der während Max 
Ernsts Maloja-Aufenthalt einen grossen Findling für das 
Grab seines 1933 verstorbenen Vaters Giovanni Giaco- 
metti in weichen, organisch fliessenden Rundformen 
bearbeitete’. Die Idee, Steine mit Ölfarbe zu bemalen, 
kann indessen nicht auf eine von aussen kommende 
Anregung zurückgeführt werden, sondern kann nur 
durch Max Ernsts assoziatives Kombinationsvermögen 
erklärt werden. Diese surrealistischen Findungen und 
Erfindungen sind ohne Vorbild, die Farbe betont und 
negiert zugleich die plastische Form, sie sind steinhart 
und fragil verletzlich zugleich. Schwerelos lastend posi- 
tionieren sie sich zwischen den Gattungen, haptische 
Qualitäten evozierend, entziehen sie sich dem hand- 
greiflichen Zugriff. 
In seinem Zürcher Katalog-Vorwort schreibt Max 
Ernst in bezug auf Alberto Giacomettis «Boule sus- 
pendue» von einem Objekt «a fonctionnement symbo- 
lique». Diese Kennzeichnung ist durchaus auch auf Max 
Ernsts bemalte Maloja-Steine übertragbar — mit einer 
Einschränkung. Giacomettis dreidimensionale Werke 
der mittleren 30er Jahre sind Plastiken — die eigenstän- 
digsten, professionellsten und qualitätsvollsten Pla- 
stiken, die der Surrealismus hervorgebracht hat. Max 
Ernsts Steine hingegen sind nicht einzuordnen in die tra- 
ditionellen Gattungen: Weder Plastik noch Malerei, 
auch den Allerweltbegriff des Objekts mag man in Anbe- 
tracht ihrer Singularität nicht verwenden. Soll man von 
steingewordener Poesie sprechen? 
Wie dem auch sei - das Geschenk von Bruno und 
Odette Giacometti fügt sich in wunderbarer Weise in die 
Sammlung des Kunsthauses ein: Es vermittelt innerhalb 
des Schaffens von Max Ernst zwischen dem bereits 
erwähnten Corso-Wandbild, das dank unermüdlicher 
Vermittlerdienste von Carola Giedion 1965 in die 
Sammlung integriert werden konnte, und dem wenig 
später entstandenen, zwar eher kleinformatigen, aber 
überaus wichtigen Bild «Die ganze Stadt» von 1935/36. 
Spannend ist die Konfrontation mit der ebenfalls 1935 
entstandenen «Concretion Humaine» von Hans Arp, ın 
der wie bei Max Ernst die Suche nach der perfekten orga- 
nischen Form in das anorganische Material des Steines 
eingebracht wurde. Aber auch zu Calders Frühwerk «A 
cello on a spindle» von 1937 lassen sich formale Analo- 
gien herauslesen - wobei diese polychrome (!) Plastik 
durchaus die Auseinandersetzung mit Mirö erkennen 
lässt, dessen «Portrait III» von 1938 zurzeit in unmittel- 
barer Nachbarschaft mit den erwähnten Werken zu 
sehen ist. 
Die Steine von Max Ernst sind ein einzigartiges 
Geschenk: einzigartig, weil nicht vergleichbar, einzig- 
artig, weil sie sich in perfekter Weise in die Sammlung 
einfügen und diese in höchst eigenständiger Weise 
akzentuieren. 
ı Kunsthaus Zürich, Ausstellung 11. Oktober-4. November 1934. 
Katalog S. 6 
2 Kunsthaus Zürich, a.a.O. 5.3 
3 Max Ernst, Skulpturen, Häuser, Landschaften. Kunstsammlung 
Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 5. September-29. November 1998, 
Katalog S. 75 
1 Als erster verwendet den Begriff Alois Riegl in: Stilfragen, Grundle- 
zungen zu einer Geschichte der Ornamentik, 1893, und: Spätrömische 
Kunstindustrie, 1901 
5 Kunsthaus Zürich, a.a.O. 5. 6f. 
6 Das vollständige Verzeichnis dieser beiden Werkgruppen in: Max 
Ernst, Werke 1929-1938. Bearbeitet von Werner Spies, Sigrid und 
Günter Metken, Köln 1979, eingeritzte Steine Nr. 2103-2111, bemalte 
Steine Nr. 2112-2123 
7 Das Bergell, Heimat der Giacometti. Herausgegeben von Ernst 
Scheidegger, Zürich 1994, Abb. S.48
	        
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