Ende des Katalogtextes von 1934 eingefügte Satz:
«Schon bestehende plastische Werke können in der sur-
realistischen Experimentation, wie jede andere Realität,
als poetische Elemente funktionieren...»°. Auch wenn
Max Ernst hier primär an die Plazierung von Kunst-
werken an ungewohnten Orten denkt, bezieht er doch -
ahnend - jede andere Realität mit in seinen Gedanken-
gang ein.
Die Steinplastiken, die in Maloja entstehen, lassen
sich in zwei Gruppen aufteilen: Kiesel, die bemalt sind
und deren Form naturvorgegeben unverändert über-
nommen wird, und Steine, in deren unbemalte Ober-
fläche plastisch eingegriffen wird®. Besonders diese zweite
Gruppe dürfte wohl von der Tätigkeit von Alberto
Giacometti angeregt worden sein, der während Max
Ernsts Maloja-Aufenthalt einen grossen Findling für das
Grab seines 1933 verstorbenen Vaters Giovanni Giaco-
metti in weichen, organisch fliessenden Rundformen
bearbeitete’. Die Idee, Steine mit Ölfarbe zu bemalen,
kann indessen nicht auf eine von aussen kommende
Anregung zurückgeführt werden, sondern kann nur
durch Max Ernsts assoziatives Kombinationsvermögen
erklärt werden. Diese surrealistischen Findungen und
Erfindungen sind ohne Vorbild, die Farbe betont und
negiert zugleich die plastische Form, sie sind steinhart
und fragil verletzlich zugleich. Schwerelos lastend posi-
tionieren sie sich zwischen den Gattungen, haptische
Qualitäten evozierend, entziehen sie sich dem hand-
greiflichen Zugriff.
In seinem Zürcher Katalog-Vorwort schreibt Max
Ernst in bezug auf Alberto Giacomettis «Boule sus-
pendue» von einem Objekt «a fonctionnement symbo-
lique». Diese Kennzeichnung ist durchaus auch auf Max
Ernsts bemalte Maloja-Steine übertragbar — mit einer
Einschränkung. Giacomettis dreidimensionale Werke
der mittleren 30er Jahre sind Plastiken — die eigenstän-
digsten, professionellsten und qualitätsvollsten Pla-
stiken, die der Surrealismus hervorgebracht hat. Max
Ernsts Steine hingegen sind nicht einzuordnen in die tra-
ditionellen Gattungen: Weder Plastik noch Malerei,
auch den Allerweltbegriff des Objekts mag man in Anbe-
tracht ihrer Singularität nicht verwenden. Soll man von
steingewordener Poesie sprechen?
Wie dem auch sei - das Geschenk von Bruno und
Odette Giacometti fügt sich in wunderbarer Weise in die
Sammlung des Kunsthauses ein: Es vermittelt innerhalb
des Schaffens von Max Ernst zwischen dem bereits
erwähnten Corso-Wandbild, das dank unermüdlicher
Vermittlerdienste von Carola Giedion 1965 in die
Sammlung integriert werden konnte, und dem wenig
später entstandenen, zwar eher kleinformatigen, aber
überaus wichtigen Bild «Die ganze Stadt» von 1935/36.
Spannend ist die Konfrontation mit der ebenfalls 1935
entstandenen «Concretion Humaine» von Hans Arp, ın
der wie bei Max Ernst die Suche nach der perfekten orga-
nischen Form in das anorganische Material des Steines
eingebracht wurde. Aber auch zu Calders Frühwerk «A
cello on a spindle» von 1937 lassen sich formale Analo-
gien herauslesen - wobei diese polychrome (!) Plastik
durchaus die Auseinandersetzung mit Mirö erkennen
lässt, dessen «Portrait III» von 1938 zurzeit in unmittel-
barer Nachbarschaft mit den erwähnten Werken zu
sehen ist.
Die Steine von Max Ernst sind ein einzigartiges
Geschenk: einzigartig, weil nicht vergleichbar, einzig-
artig, weil sie sich in perfekter Weise in die Sammlung
einfügen und diese in höchst eigenständiger Weise
akzentuieren.
ı Kunsthaus Zürich, Ausstellung 11. Oktober-4. November 1934.
Katalog S. 6
2 Kunsthaus Zürich, a.a.O. 5.3
3 Max Ernst, Skulpturen, Häuser, Landschaften. Kunstsammlung
Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 5. September-29. November 1998,
Katalog S. 75
1 Als erster verwendet den Begriff Alois Riegl in: Stilfragen, Grundle-
zungen zu einer Geschichte der Ornamentik, 1893, und: Spätrömische
Kunstindustrie, 1901
5 Kunsthaus Zürich, a.a.O. 5. 6f.
6 Das vollständige Verzeichnis dieser beiden Werkgruppen in: Max
Ernst, Werke 1929-1938. Bearbeitet von Werner Spies, Sigrid und
Günter Metken, Köln 1979, eingeritzte Steine Nr. 2103-2111, bemalte
Steine Nr. 2112-2123
7 Das Bergell, Heimat der Giacometti. Herausgegeben von Ernst
Scheidegger, Zürich 1994, Abb. S.48