27 BÜCHER MIT ZEICHNUNGEN VON
ALBERTO GIACOMETTI
Nachdem Bruno Giacometti vor ein paar Jahren die
Briefe, die sein Bruder Alberto nach Hause schrieb, der
Alberto Giacometti-Stiftung übergeben hatte, schenkte
ar ihr jetzt eine weitere Gruppe kostbarer Dokumente
zum Leben des Künstlers: siebenundzwanzig Bücher, die
zum grössten Teil gleichfalls aus dem Elternhaus in
Stampa stammen und in die Alberto dort während seiner
langen Aufenthalte gelegentlich gezeichnet hat. Die
Spannweite dieser Notate reicht vom Gekritzel beim
Erproben eines Stiftes und Kringeln in der Art von «Tele-
phonzeichnungen» bis zu ausgearbeiteten Zeichnungen
auf leeren Seiten, die hier ihren Ort fanden, da eben
gerade kein Zeichenblock zur Hand war. So trifft man
den Leser beim Zeichnen im Familienkreis unter der
berühmten Lampe, vor dem Buffet im Esszimmer oder
hinter dem Fenster im Atelier und immer wieder dem
Gesicht eines Verwandten oder Bekannten gegenüber.
Die frühesten Skizzen dürften die barock phanta-
stisch herausgeputzten Offiziere sein, mit denen sich der
Gymnasiast bei der Lektüre von Schillers Don Karlos die
Zeit verkürzte. Sie zeugen von einiger kostümgeschicht-
.icher Kenntnis, auch wenn sich darunter gelegentlich
ein besonders pittoresker Radmantel aus der Zeit Pisa-
nellos einschleicht. Am 20. Mai 1918 schrieb Alberto an
Lucas Lichtenhan, dass der Klasse als Aufsatzthema «Ein
Bild aus Hermann und Dorothea» vorgegeben wurde, das
sich jeder zunächst vorzustellen und danach zu
beschreiben hatte: offensichtlich förderte der Deutsch-
lehrer bewusst die bildliche Anschauungskraft und ihre
historische Dimension, jedenfalls lässt sich auf Albertos
Zeichnung, die er statt eines Aufsatzes abgab, der Cha-
rakter des späten 18. Jahrhunderts im Gewand Hermanns
nicht übersehen.
Die Mehrzahl der Skizzen bilden Kopien, die Giaco-
metti neben die Abbildungen in kunsthistorischen
Publikationen zeichnete. Sie dürften von seiner Jugend
bis in die späten Jahre reichen; viele entstanden während
der Suche nach seinem reifen Stil in den späteren dreis-
siger und früheren vierziger Jahren. Sein Vater Giovann:
hatte das damals massgebliche, von führenden Gelehr-
ten verfasste vielbändige Handbuch der Kunstwissenschafl
suskribiert; hier konnte sich Alberto früh eine umfas-
sende Kenntnis der bildnerischen Tradition aneignen.
Für viele seiner sorgfältigen, auf separaten Blättern aus-
geführten Kopien finden sich hier die Vorlagen. In den
Büchern selbst skizzierte er oft nur Einzelheiten oder die
allgemeine Struktur einer Figur oder Komposition.
Doch öfters erreicht er auch in den schmalen Rand-
streifen jene an Cezanne erinnernde Intensität, die die
alten Meisterwerke in den flauen Reproduktionen zu
einem neuen Leben erweckt. Gelegentlich gibt es direkte
Bezüge zu eigenen Skulpturen, so von einem frühchrist-
lichen Sarkophag zu der Lotus-Vase für den Dekorateur
Frank und einer Variante des TZte qui regarde; die Salz-
burger Kollegienkirche Fischer von Erlachs lässt ihn an
die räumliche Spannung des Homme qui marche sous la
pluie denken. Ab Mitte der vierziger Jahre gleicht er die
Vorlagen seinem Stil stark an; der klassisch griechische
Idolino erscheint so fast als Studie zum Homme au doigt,
und einmal setzt er dem antiken Ideal der weiblichen
Figur, der Venus vom Esquilin, sein eigenes der hieratisch
unbeweglich frontalen Gestalt entgegen (Abb. 7, 8). Das
Buch mit den Gesprächen Rodins dürfte nicht nur
wegen der paar frühen Kopien ein besonderes Interesse
beanspruchen, sondern auch als Zeugnis für die Freund-
schaft mit Lichtenhan, der es Alberto schenkte, und die
hervorragende Bedeutung des Künstlers für die Anfänge
des werdenden Bildhauers; die zahlreichen Anstreichun-
gen belegen seine intensive Lektüre.
Dieter Koepplin beabsichtigt, diesem Bestand, insbesondere dem
Band mit den Gesprächen Rodins, eine eingehendere Studie zu
widmen; er berührte ihn bereits in seiner Publikation «Warum
kopierte Alberto Giacometti ältere Kunst - Zu einigen Zeich-
nungen hauptsächlich im Kupferstichkabinett Basel» (Basel
1995).