Full text: Jahresbericht 1998 (1998)

27 BÜCHER MIT ZEICHNUNGEN VON 
ALBERTO GIACOMETTI 
Nachdem Bruno Giacometti vor ein paar Jahren die 
Briefe, die sein Bruder Alberto nach Hause schrieb, der 
Alberto Giacometti-Stiftung übergeben hatte, schenkte 
ar ihr jetzt eine weitere Gruppe kostbarer Dokumente 
zum Leben des Künstlers: siebenundzwanzig Bücher, die 
zum grössten Teil gleichfalls aus dem Elternhaus in 
Stampa stammen und in die Alberto dort während seiner 
langen Aufenthalte gelegentlich gezeichnet hat. Die 
Spannweite dieser Notate reicht vom Gekritzel beim 
Erproben eines Stiftes und Kringeln in der Art von «Tele- 
phonzeichnungen» bis zu ausgearbeiteten Zeichnungen 
auf leeren Seiten, die hier ihren Ort fanden, da eben 
gerade kein Zeichenblock zur Hand war. So trifft man 
den Leser beim Zeichnen im Familienkreis unter der 
berühmten Lampe, vor dem Buffet im Esszimmer oder 
hinter dem Fenster im Atelier und immer wieder dem 
Gesicht eines Verwandten oder Bekannten gegenüber. 
Die frühesten Skizzen dürften die barock phanta- 
stisch herausgeputzten Offiziere sein, mit denen sich der 
Gymnasiast bei der Lektüre von Schillers Don Karlos die 
Zeit verkürzte. Sie zeugen von einiger kostümgeschicht- 
.icher Kenntnis, auch wenn sich darunter gelegentlich 
ein besonders pittoresker Radmantel aus der Zeit Pisa- 
nellos einschleicht. Am 20. Mai 1918 schrieb Alberto an 
Lucas Lichtenhan, dass der Klasse als Aufsatzthema «Ein 
Bild aus Hermann und Dorothea» vorgegeben wurde, das 
sich jeder zunächst vorzustellen und danach zu 
beschreiben hatte: offensichtlich förderte der Deutsch- 
lehrer bewusst die bildliche Anschauungskraft und ihre 
historische Dimension, jedenfalls lässt sich auf Albertos 
Zeichnung, die er statt eines Aufsatzes abgab, der Cha- 
rakter des späten 18. Jahrhunderts im Gewand Hermanns 
nicht übersehen. 
Die Mehrzahl der Skizzen bilden Kopien, die Giaco- 
metti neben die Abbildungen in kunsthistorischen 
Publikationen zeichnete. Sie dürften von seiner Jugend 
bis in die späten Jahre reichen; viele entstanden während 
der Suche nach seinem reifen Stil in den späteren dreis- 
siger und früheren vierziger Jahren. Sein Vater Giovann: 
hatte das damals massgebliche, von führenden Gelehr- 
ten verfasste vielbändige Handbuch der Kunstwissenschafl 
suskribiert; hier konnte sich Alberto früh eine umfas- 
sende Kenntnis der bildnerischen Tradition aneignen. 
Für viele seiner sorgfältigen, auf separaten Blättern aus- 
geführten Kopien finden sich hier die Vorlagen. In den 
Büchern selbst skizzierte er oft nur Einzelheiten oder die 
allgemeine Struktur einer Figur oder Komposition. 
Doch öfters erreicht er auch in den schmalen Rand- 
streifen jene an Cezanne erinnernde Intensität, die die 
alten Meisterwerke in den flauen Reproduktionen zu 
einem neuen Leben erweckt. Gelegentlich gibt es direkte 
Bezüge zu eigenen Skulpturen, so von einem frühchrist- 
lichen Sarkophag zu der Lotus-Vase für den Dekorateur 
Frank und einer Variante des TZte qui regarde; die Salz- 
burger Kollegienkirche Fischer von Erlachs lässt ihn an 
die räumliche Spannung des Homme qui marche sous la 
pluie denken. Ab Mitte der vierziger Jahre gleicht er die 
Vorlagen seinem Stil stark an; der klassisch griechische 
Idolino erscheint so fast als Studie zum Homme au doigt, 
und einmal setzt er dem antiken Ideal der weiblichen 
Figur, der Venus vom Esquilin, sein eigenes der hieratisch 
unbeweglich frontalen Gestalt entgegen (Abb. 7, 8). Das 
Buch mit den Gesprächen Rodins dürfte nicht nur 
wegen der paar frühen Kopien ein besonderes Interesse 
beanspruchen, sondern auch als Zeugnis für die Freund- 
schaft mit Lichtenhan, der es Alberto schenkte, und die 
hervorragende Bedeutung des Künstlers für die Anfänge 
des werdenden Bildhauers; die zahlreichen Anstreichun- 
gen belegen seine intensive Lektüre. 
Dieter Koepplin beabsichtigt, diesem Bestand, insbesondere dem 
Band mit den Gesprächen Rodins, eine eingehendere Studie zu 
widmen; er berührte ihn bereits in seiner Publikation «Warum 
kopierte Alberto Giacometti ältere Kunst - Zu einigen Zeich- 
nungen hauptsächlich im Kupferstichkabinett Basel» (Basel 
1995).
	        
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