Full text: Jahresbericht 1999 (1999)

dreidimensional wirkenden Körperlichkeit durch Giotto 
entsteht der immer wieder neu zu vermittelnde Antago- 
nismus von Bildfläche und Bildtiefe. In den frühen Stil- 
leben mit ihrer entschiedenen Betonung der plastischen 
Dinge spitzt sich dieser Widerspruch zu: Die Muscheln 
im Zürcher Stilleben van der Asts wirken primär illusio- 
nistisch greifbar und sind kaum in das Bild eingebun- 
den. Nicht von ungefähr spielen in dieser frühen Phase 
gemalte Binnenrahmen, wie bereits beim Aufkommen 
der Zentralperspektive im 15. Jahrhundert, eine wichtige 
Rolle: Sie definieren im Sinne Albertis den Inhalt als 
Fensterausblick. Um zu einer ästhetisch befriedigenden 
Bildeinheit zu gelangen, gingen die holländische und die 
flämische Malerei zwei verschiedene Wege: Im Norden 
tauchten Pieter Claesz und seine Kollegen durch die 
tonale Abstufung und die Dämpfung der Buntwerte alle 
Dinge in eine stimmungshafte Atmosphäre, ähnlich wie 
gleichzeitig Jan van Goyen und andere die Landschaften 
in einen silbernen Dunst hüllten. Im Umkreis von 
Rubens aber verschmolz Snyders durch die flüssige 
Lebendigkeit seines Pinsels alles zu einem sinnlichen 
Ganzen; seine Nachfolger steigerten dies zu den barock 
üppigen Kompositionen, in denen der einzelne Gegen- 
stand in dekorativer Fülle aufgeht. 
Die frühen französischen Stilleben lassen gegenüber 
den niederländischen eine zugleich altertümliche wie 
merkwürdig modern reflektierende Haltung erkennen. 
Sebastian Stoskopff sucht, wohl nicht ohne Erinne- 
rungen an die deutsche Malerei des 15. Jahrhunderts, ins- 
besondere an Konrad Witz, und auf eine geistige 
Gestimmtheit seiner Pariser Umgebung eingehend, 
eigenständige Lösungen für die Einbindung der gerade 
von ihm sehr energisch erfassten Gegenstände in eine 
überzeugende Bildform.° In dem Basler Vanitas-Stilleben 
lässt er den Widerspruch von flacher Leinwand und 
Tiefenillusion in die Augen springen, indem er ein 
Almanachblatt in Trompe-l’oeil-Manier auf die Ober- 
fläche des Bildes heftet. Doch die plastische Präsenz des 
Schädels und der Bücher drängen den Kalender in den 
schwarzen Hintergrund zurück: Ein irritierender Kipp- 
effekt, der inhaltlich das Scheinhafte des Diesseitigen 
und zugleich einen hohen Grad an Bewusstheit für die 
Probleme des Mediums Bild demonstriert. Das 1630 
datierte Gemälde muss im Kreis der Pariser Stilleben- 
maler diskutiert worden sein: Noch 1641 varliert es 
Damien Lhomme, wobei er den Almanach allerdings 
eindeutig hinter die Objekte versetzt. Die nahezu 
schwarzen Bildgründe wirken weder explizit als Raum- 
dunkel noch als Rückwände; von jeglicher Differenzie- 
rung frei, betonen sie vielmehr den abstrakten Wert der 
Bildfläche und zugleich jedes Obiekt als in sich geschlos- 
sene Einheit. 
Jacques Linards frühes Muschelstilleben von 1624, 
zugleich sein erstes datiertes Bild, zeigt bereits ein bild- 
parallel in die Mitte gerücktes Behältnis - eine Span- 
schachtel —-, das sich exakt auf das Bildviereck bezieht 
und die Tiefenentwicklung blockiert.” Dazu kommt ein 
merkwürdig widerständiges Verhältnis von Aufsicht und 
Ansicht: Mehrere Schnecken erscheinen frontal, die 
Oberseite der Spanschachtel hingegen unnatürlich steil. 
In seinem grössten und reichhaltigsten Bild, jenes 1627 
bezeichnete Stilleben, das als erstes durch die Auswahl 
der Gegenstände auf die fünf Sinne verweist, lässt er per- 
spektivische Widersprüche hart auf die dominierenden 
bildparallelen Elemente prallen, so dass man kaum mehr 
von einem befriedigenden Ganzen sprechen kann.® 
Weniger entschieden gilt Ähnliches für ein grosses 
Muschelstilleben von 1640. Auch im Zürcher Bild ist die 
Perspektive nicht einheitlich, doch dient dies hier zur 
exakten Fixierung des Kästchens im Verhältnis zu den 
Bildrändern. Zwischen diesen beiden Rechtecken sind 
die wenigen, präzise gewählten und positionierten Rund- 
formen der Meerschnecken wie Perlen auf dem Kreis 
einer Kette aufgereiht. Dadurch wird die Tiefendimen- 
sion überspielt zugunsten jener geometrisch rhythmi- 
schen Präsenz der Bildfläche, der in der französischen 
Malerei stets einen besonderen Wert zugemessen wurde. 
Dies zeichnet, selbstverständlich auf einem ganz ande- 
ren Niveau, auch die Kompositionen Poussins gegen- 
über den mächtigen Szenen seiner italienischen Kol- 
legen aus, und so kam es auch nicht von ungefähr, dass 
die Rückbesinnung auf die Bildfläche gegenüber dem 
Tiefenraum bei Cezanne und Gauguin gerade in Frank- 
reich erfolgte. 
Auch in der Gestaltung der Einzelheiten zielt Linard 
gegenüber den Holländern stärker auf künstlerisch
	        
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