Full text: Jahresbericht 2000 (2000)

SKIZZENBÜCHER 
VON ALBERTO GIACOMETTI 
Nach der Volksabstimmung über den Renovations- 
kredit für das Kunsthaus und der erfreulich grossen 
Zustimmung überraschten uns Bruno und Odette 
Giacometti mit der Mitteilung, dass sie aus Anerken- 
nung für diese Entscheidung, die ja zunächst den 
neuen Räumen für die Werke Alberto Giacomettis zu- 
gute kommt, der Stiftung die von ihnen verwahrten 
Skizzenbücher Albertos schenken möchten. Sie ent- 
halten eine grosse Anzahl von Zeichnungen, die bis- 
her kaum jemand gesehen hat und der Forschung 
nicht erschlossen waren. Sie stammen aus der Jugend- 
und Lehrzeit und aus den Jahren nach 1935, als die 
Suche nach einem neuen figürlichen Stil einsetzte, 
und eröffnen neue Perspektiven auf die Entwicklung 
Albertos und seiner Kunst. 
Die frühesten Zeichnungen befinden sich in einem 
grossen Skizzenblock, auf dessen letzter Seite der 
Zwölfjährige sein Monogramm und die Jahreszahl 
1913 übt. Wir sehen ihn im Atelier des Vaters beim 
Studium von dessen Werken. Die Familie erscheint 
hier in den verschiedensten Perspektiven: Giovanni 
skizzierte die Knaben nackt am Ufer sitzend oder zu- 
sammen ringend, Vorarbeiten für grosse Kompositio- 
nen; Alberto kopiert diese Gemälde des Vaters, dazu 
auch ältere: das Bildnis des Grossvaters, eines der ma- 
donnenartigen Bilder, das Annetta mit der frisch ge- 
borenen Ottilia auf dem Arm zwischen den Köpfen 
von Alberto und Diego zeigt. Damit skizziert er sich 
selbst, wie ihn sein Vater vor zehn Jahren gesehen hat. 
Grosse Portraitzeichnungen der Mutter im Profil und 
vor allem des Vaters, die diesen nicht posierend, son- 
dern von der Seite bei der Arbeit zeigen, erscheinen 
bereits erstaunlich professionell. Daneben findet sich 
typisch Jungenhaftes: Moritaten, vielleicht das Ende 
des Jürg Jenatsch, Karikaturen von Befrakten und 
Uniformierten, darunter den von Teufelchen in den 
Himmel beförderten Wilhelm II. - offensichtlich ist 
man im Ersten Weltkrieg und die Stimmung entschie- 
den gegen die Deutschen gerichtet. Unter den kari- 
kierten Köpfen gibt es auch in der Art von Vallottons 
Holzschnitten exakt stilisierte Literaten und Künstler, 
deren Präzision kurios von der kindlichen Schrift mit 
den fehlerhaften Namen absticht. Dazwischen fiel der 
Block den Jüngeren Geschwistern in die Hände, wie 
Kinderkritzeleien verraten. 
Die folgenden Hefte stammen bereits aus der Gym- 
nasialzeit in Schiers, wo Alberto im Sommer 1915 ein- 
trat. In einem grösseren und einem reichhaltigen klei- 
nen Skizzenbuch hält er seine Mitschüler beim Lesen 
und Schreiben, im Ess- und im Schlafsaal, beim De- 
battieren an den Diskussionsabenden der «Amicitia» 
fest, bald locker skizziert, bald zu sorgfältigen Kom- 
positionen durchgearbeitet. Studien von Genrefigu- 
ren - Heuenden, Schuhmachern - von Landschaften 
und nach Alten Meistern zeigen ihn als angehenden 
Kunststudenten; aus dem Triumph des Bacchus von 
Veläzquez entwickelt er in professioneller Manier über 
sorgfältig überlegte Zwischenstufen ein Ex libris für ei- 
nen Kommilitonen. Dazwischen findet sich Necki- 
sches: karikierte Szenen mit Kollegen und Professo- 
ren, mit Hinrichtungen und Torturen «aus alter Zeiten 
Herrlichkeit». 
Die Schulhefte lassen einen interessierten und fleis- 
sigen Schüler erkennen. Besonders liebevolle ist das 
Zoologieheft geführt: als Titelvignette spaziert eine 
Schweinefamilie durch den Wald, und im Folgenden 
illustrieren feine Federzeichnungen die diversen Tier- 
gattungen. Wie immer bei Jugendzeichnungen ist 
man in Versuchung geführt, bereits Vorwegnahmen 
von Späterem zu erkennen: ein Maulwurfbau lässt an 
das Projet pour un passage denken, ein Vogelskelett an 
den Palais a quatre heures du matin. Auch die Vorstel- 
lung einer inneren Vision taucht auf: überraschender- 
weise denkt die Giraffe an den Zoologieprofessor — 
und nicht umgekehrt. Dieser Lehrer mit dem grossen 
Bart muss Alberto fasziniert haben; er hat ihn wieder-
	        
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