ALBERTO GIACOMETTIS SELBSTBILDNIS
VON 1923
Jugendliche Selbsterfahrung, Selbstfindung, Selbstbe-
stimmung kann in unterschiedlichster Weise erreicht
werden. Für einen angehenden Künstler reizt die
Möglichkeit des Selbstbildnisses, in dem er zugleich
seine Züge, seinen Gesichtsausdruck beobachten, als
Gestaltungsproblem bearbeiten und als Selbstaussage
bestimmen kann. In diesem anspruchsvollen Sinn ist
es eine spezifisch moderne Aufgabe, die das «Kunst-
wollen» als individuelle «Selbstverwirklichung» im
schöpferischen Tun vollzieht. Vor Rembrandt dürfte
man es kaum in dieser Bedeutung finden und in sei-
nen Charakter- und Mimikstudien wirkt die Tradition
rhetorischer Ausdrucksformeln noch stark nach.‘ In
neuer Schärfe zeigt sich die Problemstellung in der
Romantik; Giacometti näher aber ist Ferdinand Hod-
ler, der mit einem lachenden Selbstbildnis an Rem-
brandt anknüpfte* und lachend zeigt sich Alberto in
mehreren frühen Selbstdarstellungen —- noch als Kna-
be, und wohl noch ohne kunsthistorischen Ballast,
aber mit den übergrossen Augen, der offenen, auf das
Gegenüber eingehenden frontalen Direktheit bereits
in der Spannung zwischen entschiedenem Selbstbe-
wusstsein und fixiertem Gegenüber.‘
Der junge Giacometti hat sich noch zwei, drei Mal
mit einem spezifischen momentanen Ausdruck ge-
malt, ein Mal in der pointillistischen Malweise, die er
um 1919 pflegte,* zwei Jahre später mit dem Blick
über die Schulter seine Überlegenheit zur Schau stel-
lend.” Ungewöhnlicher aber sind ein paar repräsenta-
tiv ausgearbeitete Werke, nichts weniger als Manifeste
seiner Persönlichkeit, seines künstlerischen Wollens
und Könnens. In ihnen erreicht er eine Intensität, die
die zeitgleichen Arbeiten entschieden übertrifft, so-
wohl formal wie in der Aussage, so dass bis 1925, bis
zum Ende seiner Lehrzeit neben diesen «Werken» al-
les andere eher den Charakter von Studien oder Ver-
suchen annimmt. Genau fünf solcher Selbstdarstel-
lungen hat er geschaffen: 1918 zwei Zeichnungen,
1921 und 1923 je ein Gemälde und schliesslich 1925
eine Skulptur.‘ Über die beiden Blätter des Siebzehn-
jährigen möchte man immer wieder sprechen, und
dies umso mehr, als er ihnen je ein komplementäres
Bild der Mutter beigab: die Ernsthaftigkeit des Jüng-
lings behauptet sich im Angesicht der Mutter. Die
Zeichnung vom Januar’ —- der junge Künstler hat im
kalten Bergwinter den Mantelkragen selbst im Atelier
hochgeklappt — lässt in ihrer linearen Perfektion, mit
den schwarzen Haaren und grossen Augen an die
Bildniszeichnungen der deutschen Romantiker den-
ken, die Strenge der Fügung des nahezu frontalen
Kopfs über dem Körper im Profil vor den rechtecki-
gen Bilderrahmen aber an Poussin. Gegenüber dieser
altklugen Darstellung wirkt der andere Kopf von 1918
jugendlicher und moderner: knapp und exakt frontal
ins Bild gesetzt, schliesst er an entsprechende Selbst-
bildnisse des kurz zuvor verstorbenen Hodlers an, ein
Bezug, der in den dazugehörenden Portrait der Mut-
ter noch evidenter wird.® Giovanni hatte den bereits
schwer kranken Meister noch einmal in Genf besucht
und seine Eindrücke nach Hause gemeldet. Während
die Mutter primär mit Linien umrissen wird, aus de-
nen die schwarzen Pupillen umso intensiver schauen,
ist der Kopf Albertos genau ın der Mittelachse in eine
helle und eine verschattete Hälfte geteilt. Immer wie-
der werden solche halbierten Köpfe in seinem Werk
auftauchen, wie überhaupt ein Weiterdenken, Weiter-
entwickeln der gleichen Motive für ıhn charakteri-
stisch ist: nicht in die Breite, sondern ın die Tiefe, zur
Intensivierung tendiert er. Und so lässt sıch merkwür-
digerweise das Selbstbildnis von 1923 als Synthese der
beiden Blätter von 1918 verstehen.
Zunächst aber ist das Selbstbildnis von 1921 ins
Auge zu fassen, das zum ursprünglichen Bestand der
Alberto Giacometti-Stiftung gehört.” Giacometti fand
es anscheinend noch in den mittleren fünfziger Jahren
so wichtig, dass er es David Thompson für die reprä-
sentative Sammlung seiner Werke überliess. Dies ist