Full text: Jahresbericht 2000 (2000)

nun nicht mehr das Produkt eines Gymnasiasten mit 
künstlerischen Ambitionen, sondern das Gemälde ei- 
nes professionellen Malers, genau gesehen sogar sein 
Meisterstück, in dem er demonstriert, dass er gelernt 
hat, was es bei seinem Lehrer, seinem Vater zu lernen 
gab. Die Farben sind in der Art des Postimpressionis- 
mus und Fauvismus weit über die Gegenstandsbe- 
zeichnung zu blühendem Reichtum entfaltet, male- 
risch visuelles Gleichnis für die Strahlkraft des Lichtes 
und damit eine reflexive Auseinandersetzung mit dem 
Sehen und seiner Umsetzung im Bild, Noch erstaun- 
licher erscheint die Komposition, ähnlich streng wie 
in der Zeichnung vom Januar 1918, jetzt aber ist die 
ganze Figur in geometrischer Fügung dem Bildviereck 
eingeschrieben. Die unkomfortable Haltung bezieht 
sich offensichtlich auf das sogenannte Knielaufsche- 
ma der archaischen Kunst, das damals vor allem durch 
die Darstellung der Medusa im Giebelfeld des Tem- 
pels von Korfu berühmt war. Deren maskenartigen 
Antlitz bringt die Vorstellung, dass sein Anblick ver- 
steinert, besonders ausdrucksvoll zur Geltung. Auf 
den vorangegangenen längeren Italienaufenthalt ver- 
weist die ägyptisierende Stilisierung des Kopfes, die 
vor allem ım Vergleich zu Vorstudie auffällt: in Flo- 
renz hatte ihn eine ägyptische Büste tief beeindruckt; 
zum ersten Mal erschien ihm ein Kunstwerk le- 
bensähnlich.' Das Bild wird von einer unauflösbaren 
Spannung von Fixiertheit und Dynamik, unterstri- 
chen durch die diagonale Stellung des Drehrads der 
Druckerpresse im Hintergrund, beherrscht; jenes Stre- 
ben Albertos nach dem Unverrückbaren, Zeitlosen, 
das doch nur in der lebendig flüchtigen Bewegung des 
Moments erfasst werden kann, kündet sich an. 
Zwischen der Rückkehr von Rom im Juni und der 
Abreise nach Paris anfangs Januar 1922 widmete sich 
Giacometti vor der Aufnahme des Studiums der Bild- 
hauerei im Atelier seines Vaters nochmals intensiv der 
Malerei. Gern hätte man gewusst, ob das Selbstbildnis 
vor oder nach dem 5. September entstand, als er 
durch den erschreckend raschen Tod eines Reisege- 
fährten in den Tiroler Alpen tief verstört wurde. In ei- 
nem Blick auf Stampa und das Tal, das man stilistisch 
vor das Selbstbildnis rücken möchte, glaubt man die 
schon leicht gegen rot verschobene Farbigkeit des spä- 
ten Sommers zu erkennen, doch sind diese Anhalts- 
punkte zu vage.' Hingegen scheint ein weiteres grös- 
seres Gemälde, das einen alten sitzenden Bauern im 
Atelier zeigt, nach dem Selbstbildnis entstanden; be- 
reits machen sich stärker dünne zeichnerische Linien 
geltend, wie sie das erst im folgenden Sommer gemal- 
te ganzfigurige Bildnis Diegos in der Stube in Stampa 
charakterisieren.‘” Das malerische Empfinden von in- 
einander fliessenden Farbwolken weicht energisch von 
einander abgesetzten, durch Schatten plastisch her- 
ausgearbeiteten Formen. 
Die Entwicklung des Malers zum Bildhauer lässt 
sich in dem neu erworbenen Selbstbildnis von 1923 
weiterverfolgen, das Marguerite und Aime Maeght 
1952 von Alberto erhielten und das bis jetzt in der 
Familie seines Pariser Kunsthändlers verblieb.“ Hier 
füllt die Figur noch entschiedener die Bildfläche als 
vor zwei Jahren; die untere Hälfte wird nahezu voll- 
ständig von dem frontalen Oberkörper gefüllt und der 
Scheitel berührt fast den oberen Bildrand. Dass unten 
vor der Figur noch die Palette mit Hand, Pinsel und 
Leinwand zu sehen sind, lässt den engen Ausschnitt 
noch gedrängter erscheinen. Die kraftvolle Plastizität 
des Kopfs und der stark farbig gestreifte Hintergrund 
verhindert eine atmosphärische Raumentfaltung. Viel- 
mehr evoziert das Gemälde unmittelbare Nähe, ja es 
scheint direkt der Spiegel zu sein, in den Alberto starrt 
und der sich im Spiegel hinter ihm wieder und wieder 
spiegelt. Palette und Rahmen wirken nicht distanzie- 
rend, sondern scheinen die Wirklichkeit und das Spie- 
gelbild-Gemälde wie ein Scharnier zu verknüpfen. 
Die gegen die Mitte zusammengezogenen Pupillen 
fassen ihr nahes Opfer - sich selbst - scharf ins Auge, 
wie sie sowohl früher als nach 1945 die Modelle 
fixierten. Sie sind derart intensiv mit dem Sehen 
beschäftigt, dass sie keinen weiteren Ausdruck mehr 
haben. 
Nicht weniger interessant als die kompakte Kom- 
position, die an ein paar wenige, bildhaft dichte Por- 
traıtzeichnungen nach sich selbst und engen Freun- 
den anknüpft,‘® ist die malerische Durchführung, die 
ebenfalls im Zusammenhang mit dem zeichnerischen
	        
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