s chli esslich das Allerinnerste aus- oder besser eingefal-
tet, wird die Bewegung des Eindringens in diese Inner-
lichkeit fast wichtiger als diese selbst, wäre nicht das
Schlafzi mmer als Ziel di eser Bewegung eine in sich
gerundete, ruhen de Einheit, bildbestimmend, obwohl
sie kaum zehn Prozent der Bildfläche einnimmt. Die
drei vorderen Zimmer bleiben weitgehend unsi chtbar ,
Dur chgän ge, und ihr I nhalt auf die Logik der virtuel-
len Bewegung des Betrachters ausgerichtet. Die An-
ordnung der Türflügel und die Perspektive weisen ihm
eine Position parallel zur Dame im V orrau m zu. Der
wie schwebend lei cht einschwingende und sich gegen
hin ten wieder öffnende Teppich bil det den Auftakt der
Bewegung, die über die Stufen nach oben führt und
re chts von den aufsteigenden Rockfalten begleitet
wird. Effe ktvo ller ist die breitere linke Seite entwickelt,
in der sich in dreifacher V erdichtung der Klang weisser
Wäs che auf altr osa Stoffen vom Sofa über einen Stuhl
bis zum Bett steigert. Di eser Weg entfaltet sich weni-
ger durch Tiefenlinien als durch die unt erschi edli che
atmosphäri sche Gestaltu ng der Räume. Das Lic ht, das
abwechselnd von re chts und von links einfällt, wird
immer heller , prägnanter und wärme r bis zu dem in
Sonnenschein getau chten Schlafzimmer mit seiner
gelb und roten Tapete, auf der die schwarzweissen
Holzschnitte zugleich den stärksten Helldunkel-
Kontrast markieren. So entsteht gegenläufig zur Tie-
fen flucht ein kräftiger optischer I mpuls nach vorn, und
dieses Pulsieren wird durch die ambivalente Aufhän-
gung der bei den Draperien am mittleren Durchgang
unt erstüt zt: Die Oberkante der vorderen fällt mit dem
Sturz der Eingangstüre, die hintere mit der Rückwand
gegen das Schlafzimmer zusammen, so dass ein merk-
würdiger «short cut» entsteht. Unser Interieur evozi ert
so nicht nur einen Raum, sondern eine Suite, das
Appartement, den Lebensraum von M adame.
Damit kommen wir von unser er Besichtigung zu
den gattungsgeschichtlichen Bestimmungen zurück.
Im System der Gattungen der realistischen Malerei hat
der Innenraum weitgehend einen supplementären
Charakter: Er bietet häu fig Rahmen und Hintergrund
für Historie und Genre, Porträt oder S tillleben. Diese
Gattungen dominieren die R aumangaben und können
auch ohne spezifische Hintergründe auftreten, wäh-
rend «reine» Interieurs ohne Figuren sehr selten sind.
V ereinzelte Beispiele entstehen in Holland im 17. Jahr-
hun dert und im Biedermeier . Seit dem Klassizismus,
zu Lebzeiten Ingres’, sind sorgfältige, meist in Aquarell
oder Go uache aus ge führte Aufnahmen bestimmter
Räume beli ebt, Zimmerporträts gewissermassen, zur
Dokumentation, Erinnerung, Mitteilung an ferne
Angehörige. Entwickeln sich daraus Gemälde, fehlt
kaum je der Bewohner , der sich diese Umwelt zurecht-
gemacht hat und sich in ihr spiegelt. Oft sind es die
Künstler selbst und ihre Angehörigen, und di eser Tra-
dition ist auch das vorliegende Bild verpflichtet, denn
es zeigt Madame V allotton in dem frisch bezogenen
eleganten Hôtel parti culi er in der Nähe des Bois de
Boulogne. Ihr Gesic ht ist abgewandt – und so blei bt
das P orträt im Interieur «aufg ehoben ».
Normalerweise ist das Interieur mit dem Genre ver-
bunden: Die Übergänge sind fliessend, und es ist oft
beli ebig, ob man diesen oder jenen Aspe kt zur Gat-
tungsbestimmung wählt . Das Interieur kommt als sol-
ches nur zur Geltu ng, wo die äussere Hand lung ganz
hinter das Stimmungshafte des Zuständlichen zurüc k-
tritt. Bezeichnenderweise dominieren die D arstellu n-
gen des studierenden Kirchenvaters Hieronymus «im
Gehäus» die Früh- oder V orgeschichte der Gattung, die
sich erst mit der Entwicklung des bürg erli chen Genres
in Hollands «Goldenem Zeitalter» etabliert. Das
Innere des Hauses ist der Bereich der Frau, ihre ruhig e
Tätigkeit für das Hauswesen das Genr et hema, das dem
Interieur entspricht, seine Aufwertung nahe legt. Diese
niederländische Tradition bild et auch bei V allot ton
noch die Grun dlage bis in das Gleichgewicht von ab-
bildender Treue und k ünstle risch stimmungshafter
Umsetzung. Der gege nstän dli che I nhalt freilich, die
vie len T extilien, die geschwun ge nen Beine der M öbel,
das Lo uis-XVI-Bett im Fluchtpunkt evozieren als wei-
tere Kulturschicht das fran zösische Dixhuitième mit
dem erotischen Fluidum der Boudoirs von Bouche r
und seiner N achfolge r: Das Gemälde resümiert die
Geschi chte der Gattun g. Doch haftet ihm ni chts
Historisierendes an, vielme hr dominiert in Malerei
und Stimmung eine individuelle Interpretation oder 73