Volltext: Jahresbericht 2001 (2001)

ni fest. Motiv und Komposition von Barbizon erinnern 
auffälli g an den so genannten T alisman, den Sérusier 
unter Anleitung Gauguins 1888 in Pont Aven malte 
und der zum Ausgangspunkt des ornamental flächig en 
Stils der Nabis wurde. So erstaunt ni cht, dass die 1889 
von Bonnard ge malten P ann eaux décor atifs im Kunst- 
haus der fast zwanzig Jahre spät er entstandenen Land- 
s chaft von Mat isse in ihrer radi kalen Flächigkeit und 
extr emen Abstraktion eng verwandt erscheinen. 1908 
bemerkte der Kritiker V auxce lles, M atisse und Picasso, 
der damals die e rsten kubistischen Bilder malte, wür- 
den eine «art abstrait» anstreben, und tatsächli ch be- 
tracht ete Kandinsky Mat isse als die wichtigste V o rstufe 
zu di eser neuartigen Kunst. 
B arbizon gehö rt zu den Gemälden , die auf dem Weg 
zur abstrakten Malerei weiterführen. Das Gegen ständ - 
liche verschw in det hin ter der reinen Sichtbarkeit seiner 
Formen und Farben: Ob das Rot in der Mitte ein 
Hausdach, dessen Re flex oder ein Blumenbeet ist, 
bleibt ebenso unbestimmt und unentscheidbar wie der 
Re alit ätsgehalt der senkrechten Striche, die es seitlich 
einfassen. Und was durch die Gabelung noch am deut- 
lichste n als Baumstamm gekennzeichnet wird, wirkt 
durch die lic hte blaue Tönung mehr als eine Verbin- 
dungsader zwischen der ober en und der unteren Blau- 
parti e. Matisse selbst bemerkte, dass der Klang der Far- 
ben und Formen den A usdruck evozieren soll, noch be- 
vor der Betrachter das Gegenständliche identifiziert 
hat. Die schwebenden, umri s slosen Farbflächen weisen 
insbesondere auf die sich in den vierziger Jahren in 
Ameri ka aus dem Surrealismus entwickelnde Colo r- 
Field-Malerei vo raus. Wie beim T alisman trägt die 
scheinbare U mkehrun g des Motivs durch das He- 
runterspiegeln des H immels in die W asserfläche we- 
sentlich zur Umpolung des Sehens von einer habituel- 
len T iefenräumlichkeit zu einem W ahrn ehmen der ab- 
soluten F arbwe rte und ihres eigenen Klan graums bei. 
Eine Karikatur zum Salon d’Automne 1907 im Figaro 
zeigt einen Mann, der vor einem fauvistischen Bild den 
Handstand macht , mit dem Kommentar: «Le difficile, 
ce n’est pas de faire un tableau … c’est de savoi r le re- 
garder!» T atsächli ch hand elt es sich hier um eine «ko- 
pernikanische» Wende in der Bildbetrachtung, die 
durch die scheinbare oder tatsächliche Umkehrung des 
Motivs erzwungen werden kann, wie die Spiegelungen 
im Seerosenteich von Monet oder die Werke von Base- 
litz zeigen. 
Die Spiegelung des Himmels nach unten bewirkt 
bei B arbizon ein Weiteres: Das Motiv erscheint nicht 
wie üblich von unten nach oben aufge baut, sondern 
hän gt, quasi an der ober en Bildkante befestigt, von die- 
ser herunter und wird so zusätzli ch nach vorn in die 
Bildebene geschoben . Auch dies könnte als Umdeu- 
tung von Rousseau gelesen werden: Dienen dort die 
dunklen, fi ligran durchbrochenen Baumkulissen als 
«Repoussoir», das die Raumtiefe erschliesst und zu- 
glei ch als «Augenbrauen» den Schauenden mit dem 
Gesehe nen vermitteln, so verweben hier die hellen 
F arben das Bildfeld mit seinen Rändern. In der Ent- 
wicklung von Matisses Bildtektonik markiert Barbizon 
den entscheidenden Durchbruch zu dieser Inversion, 
zu der «hängenden Komposition», die für die schwere- 
los ve rzaubern de A usstrahlun g der reifen Werke essen- 
tiell wird. Denn bei der T ransformation des her kömm- 
li chen Bildes als A usblick in einen Raum mit r ealen 
Gege nstän den hilft di eses V erfahr en nicht nur bei der 
Umformung der Perspektive in einen homogenen 
F arbraum, sond ern es neutralisiert durch die Au fhe- 
bung der üblichen V erhältnisse von Tragen und Lasten 
auch die körperhafte Masse der Dinge, die der Ästhe- 
tik der reinen Sichtbarkeit widerspricht und sie zu zer- 
stör en dro ht. Wie die Fische im W asser und die Vögel 
in der Luft soll hier alles schwerelos schweben: In den 
späte n Si ebdruc ken auf Stoff Océanie – la mer und le 
ciel hat Matisse di esem Prinzip A usdruck verliehen. 
Bezeichnenderweise ist oft ein gemustert es hängendes 
Tuch der Hau ptt räger di eser Wirkung, e rstmals und 
fast lehrbuchhaft penetrant in der Nature morte au ca- 
maïeu bleu, subtiler im Atelier rose, dem ersten der drei 
grossen Atelierbilder von 1911, die alle nach di esem 
Prinzip ko nstrui ert sind und in ihrem unfassb ar en 
ästhet ischen Zauber nur noch von dem T riptychon 
übertr offe n werden, das Mat isse 1912/13 in Marokko 
malte. 
Damit k ommen wir zu einem letzten, zentralen 
Punkt. 1903 fand in Paris eine grosse Ausstellung 77
	        
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