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Die Documenta in Kas sel darf wohl als das wich-
tigste Er eignis des l etzten Jahres im Bereich der
Gegenwartskunst bezeichnet werden; sie brachte vor
allem eine weltweite Öf fnung der bishe r meist auf
Europa und Nordamerika eingeschränkten Wahr-
nehmung der a ktuell en Kunst-Produktion und eine
Aufwertung inha ltlic h-k o nzeptuell er, oft politischer
Aspekte gegenüber primär formalen Fragestellungen.
Damit sind weitreichende, wohl irreversible und lang-
fristige T e ndenzen genannt, die auch auf unsere
Samml ung Auswirkungen haben werden. Es gela ng,
quasi als Scharnier-W erk zu einer solchen E ntwick-
lung, eine der eindr ücklichs ten der für die Document a
geschaffe nen Arbeiten zu erwerben, die «Cazue las
(Beginnings)» des Mexikaners Gabriel Orozco, eine
grosse Gr uppe roher Keramikgefäs se, die in die
Anfänge der menschlichen Kultur zurückreichende
und in Stamme skul tur en noch stets gebräuchliche
Herstellungsweisen mit heutigen künstlerischen Über-
legungen verbindet. In unserer Sam mlung schliesst
sie an die bedeut enden skulpturalen Ensembles von
Beuys, N auman, Cy Twombly oder Giacometti an, die in
ganz unterschiedlicher Weise mit ursprünglic he n,
ar chaischen, elementaren Vorstellungen oder Formen
allgemein menschlichen Befindlichk eiten gestalt-
haften Ausdruck verleihen. Drei in Afrika ents tanden e
F otografien unterstreichen den weitgespannten,
anthropologischen Horizont der Arbeit Orozcos.
Die Präse ntation der Samml ung war durch die
Umbautätigkeiten be ein trächtigt. Parterre und hint er er
Teil des ersten Obergeschos ses des Neubaus blieben
weiterhin durch das provisorische Depot blockiert. Der
1968 errichtete Seerosensaal wurde im Oktober
geräumt, da er zum Bauperimeter des Bührl etra ktes
gehört; sein Schicksal ist ungewiss. Dadurch wurde
eine N eugrup pierung der Werke des Impr es s ionismus
und der klas sischen M oderne no twendig: Im Raum vor
dem Seerosensaal hängen die in den l etzten Jahren
vermehrten Werke von Matisse und der Fauves den
Gemälden ihres grossen V orbilds van Gogh gegenüber,
zum grösseren Teil sehr bede utende, längerfristige
Leihgaben. Im Rampensaal fo lgen die Impressio-
nisten, Cézan ne, Gauguin und die N abis; die Seerosen-
bilder geniessen im Bärsaal Gastrecht. Picasso, Léger
und Miró erreicht man im Neubau nach einer
Zw ischenzone mit den Surrealisten, wo zuvor Giaco -
metti p räs entiert wurde. Im ersten Obergeschoss wur-
den nach der Schlies sung des grossen Ausstellungs-
saales mehrere Ausstellungen gezeigt, die im
nächsten Kapitel beschrieben werden und für die
w es entliche Sammlungsteile vorübergehend wegge-
räumt werden mussten. Dafür k onnten im Raum
hint er der Eingangsha ll e im Frühjahr zwei Accrocha-
gen mit neueren Erwerbungen präsentiert werden:
Zunächst die letztjährigen Geschenke des Mireille
Wunderly-F onds für Gegenwartskunst, kombiniert mit
dem «Susi Shop» von Mickry 3, und anschliessend
neuere Malerei aus der Sammlung, ergänzt mit pote n-
ziellen und realisierten Neue rwerbungen. Im Dezem -
ber fo lgten im gleichen Raum die Hauptwerke aus dem
Füssli-Saal.
Der Leihve rk ehr ging mit 74 Gemä lden und Sk ulp-
turen und 90 Arbeiten auf Papier deutlich zurück. Die
Entwicklung spiegelt die etwas w eniger leihfreudige
Politik der Direktion angesichts der sehr starken
Belastung des technischen Dienstes durch die Bau-
massnahmen und die häufigen Verschiebungen in der
Sa mmlung durch die dort organisierten Aus stellun-
gen. Die umfangreichste Leihgabe, 25 Blätter, erhielt
die von Bernhar d von Waldkirch organisierte Ausstel-
lung «Liebes zauber» im Haus zum Kiel im Rahmen
der Serie «Liebes kuns t» des Museums Rietberg, ge-
folgt von den 19 Werken für Harald Szee manns
Duchamp-Aus stellung im Museum Jean Tinguel y .
Viele Leihgaben gehen an kleine Schweizer Ausstel-
lungsinstitute, und auch die Pariser Museen sind treue
Kunden , während nach USA gerade noch ein einziges
Gem älde flog. – Das von der Schwyze r St iftung geför-
derte, mehrjährige Projekt eines vollständigen Samm-
lungskataloges wurde vor allem durch die Bearbeitung
der Daten durch F ranzis ka Lentzsch und die bildlic he
Erfas sung der Werke durch Cécile Brunner und Arthur
Faust vorangetrieben. ChK