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sichtbar wie die Art der B e arbeitung und des Bren-
nens. Or ozco geht hier über den unmitte lbar en
Abdruck des mens c hlichen Körpers hinaus , wie man
ihn auch in frühmenschlichen und frühkindlichen
Ornamenten oder in der modernen Kunst seit dem
Surr ea lismus f indet – man denkt etwa an gewisse
Arbeiten Penones, denen fr eilich derart e x plizite meta-
phorische Aussagen abgehen. Er knüpft nun vielme hr
an die E rzeugung von T ontöpfen an, jener uralten Kul-
turtechnik, die zu Beginn der neolithischen Revolution
vor 10000 Jahren am Rande der Feuer nomadisieren-
der Jäger und Samml er entdeckt wur de, der erste
handwerklich nutzbar gemachte chemische Prozess.
Der gebrannte Ton machte das Kochen möglich und
eröffnete neue Perspektiven für die Lagerhaltung: Er
gehörte zu den Beding unge n der Sesshaft-Werdung.
Kera mik ist häufig der wicht igs te, die kulturellen
Zus amme nhänge erhellende Fundgegenstand ar chä-
ologischer Grabungen. Aber auch heute noch werden
in südlichen Ländern in ursprünglic he r Technik Ton-
waren hergestellt, während sich im Norden w enigs-
tens punktuell am Rande der industriellen Ziegeleien
und Keramikfabriken die Kenntnisse elementarer Ver-
fahren tradiert haben.
Or ozco hat die «Cazuelas» in der Ziegelei von
Chaillou in Treigny in Frankreich hergestellt; dort
stand ihm Jea n-Marie Foubert, durch langjährige
Erfahrung mit der Behandlu ng des Tons und den
Geheimnissen des Brennens vertraut, berat end bei.
Mehr als hundert Stücke hat Or ozco verworfen und nur
73 ge lten lassen. Dabei waren offensichtlich nicht nur
technische Unzulänglichkeiten ausschlaggebend, wie
das bei der Bestimmung des auch bei regulärer Pro-
duktion stets beträchtlichen Ausschusses üblic h ist,
viel mehr scheint er durch den T rocknungsprozess ent-
standene Risse oder unt erschiedliche Färbungen
durch die Nähe zum Feuer oder das Eindringen von
Sauerstoff als Spur en der Entstehung besonders
geschätzt zu haben. Eher dür fte er forma l s pannungs-
arme Stück e oder allzu ähnliche Doppel ausgeschie-
den habe n. Denn je mehr man sich in die Fülle dieser
Gefässe einsieht, umso mehr differenzieren sie sich,
bis fast jedes eine unverwechselbare Eigenart zeigt.
Zunächs t treten sie in mehrere F amilien auseinander,
die nach un ters c hiedlichen Verfahren hergestellt sind,
wie sie in der Töpferei seit alt ers gebräuchlic h sind:
unmittelba r mit den Händen gestaltet, auf der Töpfer-
scheibe gedreht, in Matrizen gef ormt, aufgebaut aus
vorfa br izierte n Elementen. Doch alsbald erk ennt man
Übergangsstücke, die auch Verfahren einer anderen
G ruppe enthal ten und so eine Entfaltung oder Ent-
wicklung ande uten. Innerhalb der F amilien unter-
scheiden die Pr oportionen, die W andstärke, die grobe
oder glatte O be r flächenbe handlung, die Def ormatio-
nen durch das Manipulieren, bevor die Form aus ge-
härte t war, die einzelnen Stücke.
Eine andere frühe Arbeit Orozcos ist die «Piedra
que cede» , der Stein, der nachg ibt von 1992, dem Jahr
se iner Übersiedlung nach New York. Er nahm einen
Brocken fe tter grauer Modelliermasse, die se inem
Körpergewicht entsprach, und rollte sie durch die
Strassen, so dass sich ihre Form einer Kugel näherte.
Doch ihre Oberfläche wurde von der Beschaffenheit
des Bodens, von T ritten der Hunde und Passanten
geprägt; auf ihrem Weg nahm sie Erde und Abfall auf.
Englisch ist der Titel «Yielding Stone » noch an spie-
lungsreicher: nicht nur ein «weichender St ein», son-
dern auch ein «Ste in, der Ertrag abwirft», beides in
Widers pr uch zu den stehenden R edens arten vom har-
ten und unfr uchtbar en Ste in, aber erhell end für ein
situative s V erhalte n in D rit tw elt-Ländern, wo ein prag-
matisches Eingehen und Anpas sen an die gegebe ne
Lage, die Bodenhaftung des Körpers, die unmittelbare
W ahrnehmun g der sinnlich erfahrbaren Rea lität über-
lebenswichtig sind. Or ozco hegt nicht nur als Freund
von Spielen und bes onders des Fussballs eine grosse
Vorliebe für Kugeln und Kreise, die viell eicht bereits
sein abstraktes Frühwerk d o minierten. Sie sind in
allen Kultur en bedeutsam, als kosmische Zeichen, als
Symbol e für die ewige Fortdauer oder endlose Wieder-
kehr. Als Rundformen sind sie eher dem or ganisch-
natürlic he n Ber eich als dem technisch Gemachten
zugeordnet – nicht von ungefähr hat die geome t risch-
k ons truktive Kunst einer technikgläubigen Mo derne