Full text: Jahresbericht 2002 (2002)

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sichtbar wie die Art der B e arbeitung und des Bren- 
nens. Or ozco geht hier über den unmitte lbar en 
Abdruck des mens c hlichen Körpers hinaus , wie man 
ihn auch in frühmenschlichen und frühkindlichen 
Ornamenten  oder in der modernen Kunst seit dem 
Surr ea lismus f indet – man denkt etwa an gewisse 
Arbeiten Penones, denen fr eilich derart e x plizite meta- 
phorische Aussagen abgehen. Er knüpft nun vielme hr 
an die E rzeugung von T ontöpfen an, jener uralten Kul- 
turtechnik, die zu Beginn der neolithischen Revolution 
vor 10000 Jahren am Rande der Feuer nomadisieren- 
der Jäger und Samml er entdeckt wur de, der erste 
handwerklich nutzbar gemachte chemische Prozess. 
Der gebrannte Ton machte das Kochen möglich und 
eröffnete neue Perspektiven für die Lagerhaltung: Er 
gehörte zu den Beding unge n der Sesshaft-Werdung. 
Kera mik ist häufig der wicht igs te, die kulturellen 
Zus amme nhänge erhellende Fundgegenstand ar chä- 
ologischer Grabungen. Aber auch heute noch werden 
in südlichen Ländern in ursprünglic he r Technik Ton- 
waren hergestellt, während sich im Norden w enigs- 
tens punktuell am Rande der industriellen Ziegeleien 
und Keramikfabriken die Kenntnisse elementarer Ver- 
fahren tradiert haben. 
Or ozco hat die «Cazuelas» in der Ziegelei  von 
Chaillou in Treigny in Frankreich hergestellt; dort 
stand ihm Jea n-Marie Foubert, durch langjährige 
Erfahrung mit der Behandlu ng des Tons und den 
Geheimnissen des Brennens vertraut, berat end bei. 
Mehr als hundert Stücke hat Or ozco verworfen und nur 
73 ge lten lassen. Dabei waren offensichtlich nicht nur 
technische Unzulänglichkeiten ausschlaggebend, wie 
das bei der Bestimmung des auch bei regulärer Pro- 
duktion stets beträchtlichen Ausschusses üblic h ist, 
viel mehr scheint er durch den T rocknungsprozess ent- 
standene Risse oder unt erschiedliche Färbungen 
durch die Nähe zum Feuer oder das Eindringen von 
Sauerstoff als Spur en der Entstehung besonders 
geschätzt zu haben. Eher dür fte er forma l s pannungs- 
arme Stück e oder allzu ähnliche Doppel ausgeschie- 
den habe n. Denn je mehr man sich in die Fülle dieser 
Gefässe einsieht, umso mehr differenzieren sie sich, 
bis fast jedes eine unverwechselbare Eigenart zeigt. 
Zunächs t treten sie in mehrere F amilien auseinander, 
die nach un ters c hiedlichen Verfahren hergestellt sind, 
wie sie in der Töpferei seit alt ers gebräuchlic h sind: 
unmittelba r mit den Händen gestaltet, auf der Töpfer- 
scheibe gedreht, in Matrizen gef ormt, aufgebaut aus 
vorfa br izierte n Elementen. Doch alsbald erk ennt man 
Übergangsstücke, die auch Verfahren einer anderen 
G ruppe enthal ten und so eine Entfaltung oder Ent- 
wicklung ande uten. Innerhalb der F amilien unter- 
scheiden die Pr oportionen, die W andstärke, die grobe 
oder glatte O be r flächenbe handlung, die Def ormatio- 
nen durch das Manipulieren, bevor die Form aus ge- 
härte t war, die einzelnen Stücke. 
Eine andere frühe Arbeit Orozcos ist die «Piedra 
que cede» , der Stein, der nachg ibt von 1992, dem Jahr 
se iner Übersiedlung nach New York. Er nahm einen 
Brocken fe tter grauer Modelliermasse, die se inem 
Körpergewicht entsprach, und rollte sie durch die 
Strassen, so dass sich ihre Form einer Kugel näherte. 
Doch ihre Oberfläche wurde von der Beschaffenheit 
des Bodens, von T ritten der Hunde und Passanten 
geprägt; auf ihrem Weg nahm sie Erde und Abfall auf. 
Englisch ist der Titel «Yielding Stone » noch an spie- 
lungsreicher: nicht nur ein «weichender St ein», son- 
dern auch ein «Ste in, der Ertrag abwirft», beides in 
Widers pr uch zu den stehenden R edens arten vom har- 
ten und unfr uchtbar en Ste in, aber erhell end für ein 
situative s V erhalte n in D rit tw elt-Ländern, wo ein prag- 
matisches Eingehen und Anpas sen an die gegebe ne 
Lage, die Bodenhaftung des Körpers, die unmittelbare 
W ahrnehmun g der sinnlich erfahrbaren Rea lität über- 
lebenswichtig sind. Or ozco hegt nicht nur als Freund 
von Spielen und bes onders des Fussballs eine grosse 
Vorliebe für Kugeln und Kreise, die viell eicht bereits 
sein abstraktes Frühwerk d o minierten. Sie sind in 
allen Kultur en bedeutsam, als kosmische Zeichen, als 
Symbol e für die ewige Fortdauer oder endlose Wieder- 
kehr. Als Rundformen sind sie eher dem or ganisch- 
natürlic he n Ber eich als dem technisch Gemachten 
zugeordnet – nicht von ungefähr hat die geome t risch- 
k ons truktive Kunst einer technikgläubigen Mo derne
	        
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