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weitgehend auf sie verzic h tet. Im Ausgleich aller auf
ihn wirkenden K räfte gl eicht der «Yie lding Stone » den
durch Zentrif ugal kraft und Gravitation, durch Vulka-
nismus und Verwitterung geformten Himmels k örpern.
Auch die «Cazuelas» sind ganz von Rundformen
bestimmt; über dies spielen in ihnen kleine und grös-
sere Kugeln eine besondere Rolle. Freilich erscheinen
sie zu zahlreich und meist zu beiläufig, als dass man
sie mit allzu gewichtiger Symbolik belasten möchte.
In einer Werkgruppe von 1996, ge nannt «Atomists»,
s t rukturierte Orozco Fotografien von Sportszenen –
Ruderr egatte n, F us sbal lspiel er u.a. – mit kl einen run-
den und ovalen Scheiben, welche die Bewegungen in
eine abstrakte Form umsetzten. Demokrits Vorstel-
lung eines dynamisch fluktuierenden Universums von
unsichtbaren, stets bewegten Atomen scheint auch
den Kugelregen der «Cazuelas» zu bes timmen. Fast
wie Geschosse d ringen sie in dickere Gefässwandun-
gen ein, während sie dünner e Umm ante lungen dra-
matisch ausbuchten. Sie demons trier en die Ener gie
des Schaffensprozesses, der auch zerstörerisch wir-
ken kann. Umgekehrt zeigen sie sich in anderen Töp-
fen eher wie pilzartig e Wucherungen und lassen an
den Ne bentitel «Beginning s » denken, den der Küns t-
ler dem Werk gegeben hat. Claudia Jolles erinnert an
die weibliche Symbolik der Gefässe und die männliche
der Kugeln, was in einem allgemeineren Sinn auf die
Wirksa mk eit schöpferischer Kräfte hinweist. Mehrere
Schalen sind aus kleinen Rundformen aufgebaut, die
durch das Schleudern und Auseinanderfahren von
T onkugel n entstanden; ander e Objekte scheinen
umgekehrt von Kugel n wie von Mahlsteinen ausge-
höhlt, ja bis auf den Boden d ur chgerieben zu sein –
kleine Modelle von Gletschermühlen oder Gleichnisse
für die Abnützung durch steten Gebrauch: Die spezie l-
le Bedeutung von «Cazuelas» ist Tiegel, der Trog, in
dem eine Masse wie Br otteig geknetet wird.
Invas ionen von Kugeln in Form von Orange n ver-
anstaltete Or ozco 1991 auf abgeräumten Marktstän-
den in Brasilien und zwei Jahre spä ter rings um das
Mus eum of M odern Art in New York. «T urist mal uco
(Crazy T ourist)» nannt e er die in einer F o tografie fest-
gehaltene P latzierung je einer F rucht pro Stand, die
den Blick des Betrachters in einer irritierend rössel-
sprungartigen Perspektive diagonal zu den Holz-
tischen fächerförmig in die Tiefe hüpfe n lässt. Der
s kulptural e Eingriff – ein blosses Verteilen von vorhan -
denen Überbleibseln in einer gegebenen Situation – ist
minim, leichthändig, ephemer und löst ebens o spiele-
rische Assoziationsketten aus. Ist der Künstler selbst
der «crazy tourist», dessen Spur wir uns nicht entzie -
hen k önnen? Er o kkupiert hier einen leeren, aber wirk-
lichen Markt in einer peripher en Siedlung so weit weg
von den Kunstzentren, dass der lokalen Bevölkerung
die Vorstellung eines «Künstlers», geschweige denn
eines postmodernen wie Or ozco kaum geläufig sein
wird und dies er entsprechend als «crazy tourist»
erscheinen dürfte. Das Bese tzen von leeren Märkten,
das Erschliessen neuer Bereiche der Re alität für den
Austausch äs thetischer Gestaltungen und met aphori-
scher Ideen gehört seit der R omantik zu den klassi-
schen Verfahren in der Ökonomie der Künstler . Auf
einem Markt wie diesem könnte man sich gut «Cazue -
las» vorstellen, und tats ächlic h hat Or ozco seine aus
dies en entwickelten T o nformen auf derartigen Tischen
in der Galerie Crousel gezeigt, die zwischen dem
Beaubourg und den ehemaligen Halles liegt, einst die
grossen Pariser Viktua lienmärkt e, heute Umschlag-
platz für Kuns t. Die Aktion in New York zwei Jahre nach
dem exotischen « Crazy tourist» bildete das Gege n-
stück im Zentrum der modernen Kunst und hiess ent-
sprechend «Home Run». Die Bewohner der Apparte -
ments um den Skulpturenhof des MoMA wurden
gebeten, Orangen in ihren Fenstern zu platzieren: die
Kuns t, die von diesen Fenstern sonst nur auf Distanz
zu sehen war, drang nun physisch in die W ohnunge n
ein, konnte aber als solche nur von dem ästhetischen
Gesichtspunkt im Mus eum, wo eine Hängematte
ins ta lliert war, wahrgenommen werden.
Kurz darau f hatte Orozco seine erste Ausstellung
in Paris, ber eits dama ls in der Galerie Chanta l Crou-
sel, für die er sein ambival e ntes Spiel mit Kons umgü-
tern noch w eiter trieb: Er schnit t aus einem Citroën DS
das mittlere Drittel aus, so dass diese «Déesse» des