Full text: Jahresbericht 2002 (2002)

95 
weitgehend auf sie verzic h tet. Im Ausgleich aller auf 
ihn wirkenden K räfte gl eicht der «Yie lding Stone » den 
durch Zentrif ugal kraft und Gravitation, durch Vulka- 
nismus und Verwitterung geformten Himmels k örpern. 
Auch die «Cazuelas» sind ganz von Rundformen 
bestimmt; über dies spielen in ihnen kleine und grös- 
sere Kugeln eine besondere Rolle. Freilich erscheinen 
sie zu zahlreich und meist zu beiläufig, als dass man 
sie mit allzu gewichtiger Symbolik belasten möchte. 
In einer Werkgruppe von 1996, ge nannt «Atomists», 
s t rukturierte Orozco Fotografien von Sportszenen – 
Ruderr egatte n, F us sbal lspiel er u.a. – mit kl einen run- 
den und ovalen Scheiben, welche die Bewegungen in 
eine abstrakte Form umsetzten. Demokrits Vorstel- 
lung eines dynamisch fluktuierenden Universums von 
unsichtbaren, stets bewegten Atomen scheint auch 
den Kugelregen der «Cazuelas» zu bes timmen. Fast 
wie Geschosse d ringen sie in dickere Gefässwandun- 
gen ein, während sie dünner e Umm ante lungen dra- 
matisch ausbuchten. Sie demons trier en die Ener gie 
des Schaffensprozesses, der auch zerstörerisch wir- 
ken kann. Umgekehrt zeigen sie sich in anderen Töp- 
fen eher wie pilzartig e Wucherungen und lassen an 
den Ne bentitel «Beginning s » denken, den der Küns t- 
ler dem Werk gegeben hat. Claudia Jolles erinnert an 
die weibliche Symbolik der Gefässe und die männliche 
der Kugeln, was in einem allgemeineren Sinn auf die 
Wirksa mk eit schöpferischer Kräfte hinweist. Mehrere 
Schalen sind aus kleinen Rundformen aufgebaut, die 
durch das Schleudern und Auseinanderfahren von 
T onkugel n entstanden; ander e Objekte scheinen 
umgekehrt von Kugel n wie von Mahlsteinen ausge- 
höhlt, ja bis auf den Boden d ur chgerieben zu sein – 
kleine Modelle von Gletschermühlen oder Gleichnisse 
für die Abnützung durch steten Gebrauch: Die spezie l- 
le Bedeutung von «Cazuelas» ist Tiegel, der Trog, in 
dem eine Masse wie Br otteig geknetet wird. 
Invas ionen von Kugeln in Form von Orange n ver- 
anstaltete Or ozco 1991 auf abgeräumten Marktstän- 
den in Brasilien und zwei Jahre spä ter rings um das 
Mus eum of M odern Art in New York. «T urist mal uco 
(Crazy T ourist)» nannt e er die in einer F o tografie fest- 
gehaltene P latzierung je einer F rucht pro Stand, die 
den Blick des Betrachters in einer irritierend rössel- 
sprungartigen Perspektive diagonal zu den Holz- 
tischen fächerförmig in die Tiefe hüpfe n lässt. Der 
s kulptural e Eingriff – ein blosses Verteilen von vorhan - 
denen Überbleibseln in einer gegebenen Situation – ist 
minim, leichthändig, ephemer und löst ebens o spiele- 
rische Assoziationsketten aus. Ist der Künstler selbst 
der «crazy tourist», dessen Spur wir uns nicht entzie - 
hen k önnen? Er o kkupiert hier einen leeren, aber wirk- 
lichen Markt in einer peripher en Siedlung so weit weg 
von den Kunstzentren, dass der lokalen Bevölkerung 
die Vorstellung eines «Künstlers», geschweige denn 
eines postmodernen wie Or ozco kaum geläufig sein 
wird und dies er entsprechend als «crazy tourist» 
erscheinen dürfte. Das Bese tzen von leeren Märkten, 
das Erschliessen neuer Bereiche der Re alität für den 
Austausch äs thetischer Gestaltungen und met aphori- 
scher Ideen gehört seit der R omantik zu den klassi- 
schen Verfahren in der Ökonomie der Künstler . Auf 
einem Markt wie diesem könnte man sich gut «Cazue - 
las» vorstellen, und tats ächlic h hat Or ozco seine aus 
dies en entwickelten T o nformen auf derartigen Tischen 
in der Galerie Crousel gezeigt, die zwischen dem 
Beaubourg und den ehemaligen Halles liegt, einst die 
grossen Pariser Viktua lienmärkt e, heute Umschlag- 
platz für Kuns t. Die Aktion in New York zwei Jahre nach 
dem exotischen « Crazy tourist» bildete das Gege n- 
stück im Zentrum der modernen Kunst und hiess ent- 
sprechend «Home Run». Die Bewohner der Apparte - 
ments um den Skulpturenhof des MoMA wurden 
gebeten, Orangen in ihren Fenstern zu platzieren: die 
Kuns t, die von diesen Fenstern sonst nur auf Distanz 
zu sehen war, drang nun physisch in die W ohnunge n 
ein, konnte aber als solche nur von dem ästhetischen 
Gesichtspunkt im Mus eum, wo eine Hängematte 
ins ta lliert war, wahrgenommen werden. 
Kurz darau f hatte Orozco seine erste Ausstellung 
in Paris, ber eits dama ls in der Galerie Chanta l Crou- 
sel, für die er sein ambival e ntes Spiel mit Kons umgü- 
tern noch w eiter trieb: Er schnit t aus einem Citroën DS 
das mittlere Drittel aus, so dass diese «Déesse» des
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.